© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/16 / 22. April 2016

Rousseffs Abgang soll Wunden heilen
Brasilien: Das Parlament leitet den Sturz der umstrittenen Präsidentin ein – mit einem Amtsverbleib rechnet kaum jemand
Lukas Noll

Unter Tränen rief Bruno Araujó am Sonntag abend ins Parlament: „Ihr Abgang wird Wunden heilen! Auserwählt zu sein für diesen Schrei im Namen von Millionen Brasilianern ist wie ein Film der letzten 14 Monate.“ 

Wie einer 479köpfigen Jury gegenüber muß sich Dilma Rousseff gefühlt haben: Nur wenige Abgeordnete ließen es sich nehmen, ihr „Sim“ oder „Não“ zu Brasiliens Präsidentin emotional zu begründen. Keinem von ihnen schenkte das Land jedoch soviel Aufmerksamkeit wie dem Vertreter aus Pernambuco, der dem Impeachment-Verfahren als Nr. 342 zur nötigen Zweidrittelmehrheit verhalf. Letzten Endes fiel das Votum der Parlamentarier sogar noch vernichtender aus: Unerwartete 367 Abgeordnete stimmten gegen die Präsidentin.

Nur 69 Mitstreiter hatte Araujó noch zu Beginn seines Anlaufs für eine Amtsenthebung im Herbst 2015 um sich geschart. Als „Tucano“, wie die Mitglieder des konservativen PSDB genannt werden, hatte er sich die Sozialistin schon lange vorgenommen, als selbst Dilmas Koalitionspartner PMDB im März das sinkende Schiff verließ. 

Die Lorbeeren dürfen dennoch letztere ernten: Taktisch hatte die Partei zwar alle Minister, nicht aber den Vizepräsidenten Michel Temer aus dem Kabinett abgezogen. Der 75jährige attackierte die Präsidentin lieber aus dem Amt heraus, um sie nun vielleicht schon im Mai zu ersetzen. 

Bis es allerdings soweit ist, muß die zweite Parlamentskammer erst den Antrag prüfen, wozu der Senat am 28. April eine Sonderkommission einberuft. Deren Bericht wird laut dem Nachrichtenportal Terra bis zum 9. Mai erwartet, zwei Tage später stimmt der Senat über eine 180tägige Amtsenthebung ab. Angesichts des eindeutigen Votums der ersten Kammer rechnet in Brasilien kaum jemand mit einer Ablehnung – zudem reicht Dilmas Gegnern im Senat eine einfache Mehrheit zur offiziellen Verfahrenseröffnung. 

Die Präsidentin dürfte dann zwar weiterhin in ihrer Residenz wohnen, hätte aber nicht mal mehr Zutritt zum Präsidentenpalast. Ihr politisches Schicksal läge in den Händen des Senats: Stuft dieser die Vorwürfe als haltlos ein, könnte sie in ihr Amt zurückkehren. Im gegenteiligen Falle, einer mit Zweidrittelmehrheit möglichen Amtsenthebung, würde Dilma nicht nur endgültig gestürzt, sie erhielte auch ein achtjähriges Politikverbot samt Verlust des passiven Wahlrechts.

Erst einmal erlebte Brasilien bislang eine solche Zuspitzung: Als der Senat 1992 die vorläufige Absetzung von Fernando Collor beschloß, trat dieser freiwillig zurück. Ein Schritt, den Dilma bislang kategorisch ausschließt.

 Hatte das Regierungslager mit einem Verschiebungsantrag noch bis zur letzten Minute versucht, das Verfahren aufzuhalten, zeichnet sich seit dem Wochenende jedoch ein Kurswechsel ab: Dabei kursiert der Vorschlag, die Amtszeit der 2014 wiedergewählten Dilma auf zwei Jahre zu stutzen, um schnelle Neuwahlen einzuleiten. Zu diesen könnte dann ihr beliebter Vorgänger Lula da Silva antreten. Doch angesichts der zum Greifen nahen Machtoption Temers und des diesem als Stellvertreter nachrückenden Parlamentspräsidenten Eduardo Cunha kommt der Vorschlag des Dilma-Lagers nicht nur zu spät, er dürfte auch aussichtslos sein. 

Die beiden potentiellen Nachfolger lassen indes daran zweifeln, daß es nur um die Korruptionsaffäre geht, in die Dilmas Arbeiterpartei verstrickt ist: Cunha ist wegen Korruptionsverdachts um rund 40 Millionen Dollar und Konten in der Schweiz angeklagt. Auch gegen Temer laufen Ermittlungen und ein Amtsenthebungsverfahren. Brasiliens große Impeachment-Show, sie ist weder ein Aufbegehren gegen die Korruption, die Lateinamerikas größte Volkswirtschaft lähmt, noch der „Putsch“, gegen den das linke Lager verschwörungstheoretisch das ganze Land aufheizt: Das einstige Musterschwellenland versucht sich an einem donnernden Kurswechsel in der Wirtschaftspolitik, um der seit Jahren anhaltenden Rezession zu entkommen, für die man Dilma und ihre geschönten Haushaltszahlen verantwortlich macht. 

Doch gesiegt hat die seit Wochen demonstrierende „Straße“ erst, wenn Brasiliens Rezession auch an der Wurzel gepackt wird: Ausufernde Bürokratie und Korruption hängen wie dunkle Wolken über dem Land, das sich seit Jahren zum Investorenschreck entwickelt.