© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/16 / 22. April 2016

Pankraz,
Harald Martenstein und das Geheimnis

Nur sympathetisch mitseufzen kann man mit Harald Martenstein, wenn er in einer Kolumne (in der Zeit vom 12. April) vor sich hin seufzt: „Glücklich die Zeit, in der man nicht über alles geredet hat und in der es Geheimnisse gab, die man mit ins Grab genommen hat.“

Aber gleichzeitig breitet sich beim Leser auch Verdrießlichkeit aus. Denn Martenstein erzählt just in dem Text, in dem er so herzergreifend seufzt, eine höchst intime, heikle Geschichte, die er wohl besser mit hinab ins Grab genommen hätte.

Es geht um seine Mutter, die sich, als er selbst noch ganz klein war, in einen jungen Perser verliebte. Sie wollten heiraten, doch die Familie des Bräutigams forderte, die Braut müsse sich erst einmal von ihrem unehelichen Sohn trennen, ihn seinem leiblichen Vater übergeben. Die Mutter weigerte sich, aus der Ehe wurde nichts, aber er, der kleine Harald, bekam ein lebenslanges Trauma, wie er mitteilt. Denn immer, wenn er mal etwas ausgefressen hatte, klagte ihn die Mutter aus erzieherischen Gründen an: „Hast du denn vergessen, daß ich deinetwegen die Liebe meines Lebens geopfert habe?“

Wer hat nun den größeren „Geheimnisverrat“ begangen, die Mutter, die mit seiner Hilfe ihren Sohn erziehen wollte, oder der Sohn, der sein Trauma heilen oder möglicherweise auch nur ein interessantes Thema für seine Kolumne entfalten wollte? Gibt es überhaupt einen Geheimnis-„Verrat“, gibt es also Geheimnisse, die gewissermaßen über eine eigene Würde verfügen und deren Enthüllung und Instrumentalisierung nach allgemeiner Überzeugung verboten ist? Man könnte daran zweifeln.


Gewiß, die gegenwärtige Enthüllungswelle, die allgemeine Gier nach „totaler Transparenz“, wirkt spontan abstoßend und macht den Sehnsuchtsruf Martensteins nach definitiven Geheimnissen, die der Wissende lieber mit ins Grab nimmt, statt sie je preiszugeben, nur allzu verständlich. Aber es ist nun einmal so, wie es ist.

Unsere ganze „westliche Kultur“, Literatur, Kunst, Journalismus, scheint nur noch ein einziger gigantischer „Tatort“ zu sein, es werden überall nur noch (billigste) Geheimnisse enthüllt. Noch der kleinste Internetsurfer, Blogbetreiber oder Romanschreiber hält sich für eine Art Hauptkommissar und operiert dementsprechend.

Die Welt teilt sich auf in Verbrechen (Geheimnisse) einerseits, Hauptkommissare (Enthüller) andererseits. Die ganze Philosophie ist darüber ins Taumeln geraten. Ursprünglich galt auch für sie: Geheimnisse sind dazu da, um enthüllt zu werden. Die Liebe der Philosophen galt nicht dem Geheimnis als solchem, sondern dem aufgelösten, dem offenbarten Geheimnis, das im Grunde gar keines mehr war. Der Philosoph verwandelte, wie jeder gute Wissenschaftler, Geheimnisse in Wissen. Wie könnte also das Geheimnis selbst plötzlich eine philosophische Kategorie sein? 

Doch die neuesten Entwicklungen haben die Perspektive von Grund auf umgeworfen. Das in Wissen verwandelte, also aufgelöste Geheimnis interessiert jetzt gerade den echten Wissensfreund nur noch am Rande. Geheimnisloses Wissen interessiert den Ingenieur, der mit seiner Hilfe unser aller Leben bequemer macht, den Erzieher, der mit seiner Hilfe junge Menschen sozialisiert und für die Gesellschaft fit macht. Aber der Philosoph, der Spezialist für die Struktur von Weisheit generell, verliert das Interesse an aufgelösten Geheimnissen. Daß es Geheimnisse gibt, ist seine Lust, die er sogar energisch zu verteidigen bereit ist.

Man muß sich diesen Verteidigungsprozeß etwa so vorstellen, wie Naturfreunde heutzutage ein von ihnen aufgespürtes, also enthülltes seltenes Vogelnest gegen touristische Neugier und eierräuberischen Zugriff schützen und verteidigen. Sie suchen nach Gelegen des seltenen Schwarzstorchs, um nach gemachtem Fund sofort ein Geheimnis daraus zu machen, das heißt, sie bringen Wachposten rund um das Gelege in Stellung, bestürmen die Forstverwaltung, weiträumig Verbotstafeln aufzustellen, verabreden sich, nichts von der frohen Botschaft triumphierend an die mediale Öffentlichkeit zu tragen.


Was hier stattfindet, ist kein bloßer Enthüllungsprozeß von Geheimnissen mehr, sondern eine Dialektik von Entbergen und Verbergen, so wie in prähistorischen Zeiten bei der Ausbildung von Sprachen. Die Wörter waren damals Instanzen der Entbergung wie der Verbergung gleichermaßen. Und das Wörterbilden war keineswegs ein Naturprozeß; Ethnologen und Paläo-Linguisten belehren uns vielmehr darüber, daß sich die frühen Menschen über das, was da passierte, durchaus im klaren waren.

Mircea Eliade hat auf den Marquesas-Inseln in Polynesien beobachtet, wie dort der Stamm richtig offiziell Benennungen von bis dato unerkannten Sachverhalten vornimmt, wie er also regelrecht prädikatisiert. Keine Rede kann davon sein, daß die neuen Wörter zufälligen Einfällen entspringen, etwa kindlich-mimetischen Lautmalereien, die sich dann allmählich „herumsprechen“. Vielmehr wird jedes verbindliche neue Wort oder Zeichen von der Ratsversammlung sorgfältig erarbeitet, geprüft und für existentiell wichtig befunden.

Anschließend wird ihm vor dem Männerhaus in feierlicher Prozedur eine Maske errichtet, hinter der sich die neubenannte Sache bergen soll und die man nicht berühren darf, die also „tabu“ ist. Tabu meint bei den Marquesas-Leuten Berührungsverbot, aber es meint in zahlreichen Fällen zusätzlich noch Redeverbot, besser: Beredungsverbot. Was tabu ist, darüber redet man nicht, und wer dennoch darüber redet, der wird geächtet, oder man läßt ihn zumindest in schneidender Weise spüren, wie unerwünscht seine Erzählungen sind.

Martensteins grämliches Reden über die Mutter und ihre Schuld an seinem Trauma würde vom Rat der Weisen mit Sicherheit geächtet werden. Aber sein gleichzeitiger Seufzer über die schwindende Kraft des über den Tod hinaus geborgenen Geheimnisses würde Anteilnahme und Zuspruch finden.