© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 17/16 / 22. April 2016

Ein famoser Glücksritter
Moralist der Feder: Vor 400 Jahren starb Miguel de Cervantes, Schöpfer des unvergleichlichen „Don Quijote“
Norbert Breuer-Pyroth

Weiß getünchte Windmühlen mit ihren dunklen Hauben charakterisieren noch heute in ihrer sorglosen Unverrückbarkeit die Landschaft der menschenarmen, zentralspanischen Region La Mancha. Und noch heute schimmern die Böden rostrot bis safranfarben, ziehen nach der flirrenden Sommerglut klirrende, sturmtosende Winter über die Hochebenen, in denen dann nur mehr der Cencibel, ihr roter Wein, erwärmt.

Just hier ritt einst ein Landjunker, der „geistvolle Hidalgo Don Quijote von der Mancha“ jenen Abenteuern würdevoll entgegen, welche ihm sein Schöpfer Miguel de Cervantes Saavedra in aller nur denkbaren Ironie zugeeignet hatte, um die damals überschäumende Welle von Ritterromanen zu verspotten. Unersättliches Lesen solcher Phantastereien solle, höhnte er, seinem etwa fünfzigjährigen Protagonisten das Gehirn schließlich dermaßen eingetrocknet haben, daß er den Verstand verloren habe. Selbiger lebte fortan in einer Scheinwelt – der längst verblichenen mittelalterlichen Minne.

Damals darbte der angehende Schriftsteller Cervantes gerade hinter Gittern – Strafintermezzi, die ihm immer wieder einmal widerfahren sollten. Sein unstetes Leben hatte ihm überhaupt einen bunten Strauß an Episoden verabreicht. 

Cervantes wurde als Sklave nach Algier verschleppt

1547 in Alcalá de Henares als Sohn eines verarmten Wundarztes und Enkel eines zwielichtigen Anwalts und Finanzbeamten der Inquisition geboren, studierte er, der vermutlich stotterte und jüdischer Abkunft gewesen sein könnte, Theologie in Salamanca und Madrid. 

1569 findet er sich in Italien wieder. Jedoch nicht etwa, um ein Amt im Vatikan zu bekleiden, sondern vielmehr auf der Flucht vor der königlich-spanischen Justiz, die ihm die rechte Hand abtrennen wollte, dieweil er einen Duellanten verletzt hatte. In Rom erhandelte er sich immerhin den Posten des Kammerdieners eines Kardinals mit dem verheißungsvollen Namen Acquaviva. Dessen Obliegenheiten schienen ihm jedoch anscheinend etwas fade, denn noch im gleichen Jahr ließ er sich in Neapel von der spanischen Marine anheuern. 

1571 focht er tapfer in der legendären Schlacht von Lepanto, die wegen des unerwarteten Sieges über das Osmanische Reich von der Christenheit gefeiert wurde; heute erinnert daran nur mehr der gleichnamige spanische Brandy, den auch die Nachfahren der Unterlegenen in Marbella zu schätzen wissen. 

Andererseits forderte diese Seeschlacht mit bis zu 47.000 Toten mehr Menschenleben an einem einzigen Tag als jede andere. Für Cervantes verlief diese reale Apokalypse noch vergleichsweise glimpflich: Inmitten von Galeerenknäueln, Kanonen, Säbeln, blitzenden Rüstungen und meilenweit hörbaren Todesschreien, schossen ihm die Türken eine Arkebusenkugel in die Brust und in die linke Hand, die lebenslang entstellt blieb. 

Er genas und fuhr weiter. 1575 freilich fiel seine Galeere vor der katalanischen Küste in die Hände berberischer Piraten. Er wurde von den Muselmanen als Sklave nach Algier verschleppt, ihm drohte gar die Hinrichtung. Nach fünf Jahren und vier gescheiterten Fluchtversuchen wurde der ungemein zähe Cervantes durch den Trinitarier-Orden freigekauft und kehrte heim. Durch seine grausigen Erlebnisse keineswegs abgeschreckt, zog er ab 1580 erneut zu Felde; diesmal verschlug es ihn nach Portugal und gar auf die Azoren.

Um seiner hohen Schulden Herr zu werden, warf er sich hinfort auf die Dichtkunst, blieb aber zunächst unbeachtet. Es folgten eine freudlose Ehe, die nach wenigen Jahren kinderlos endete, zwischenliegend die Liebesaffäre mit einer Schauspielerin. 

Über das weibliche Geschlecht läßt er seinen Don Quijote üppig sinnieren und mit Resultaten aufmerken wie, „daß der Frauen Herkunft für die Vornehmheit der Nachkommen nicht von Bedeutung sei, um so mehr, als der wahre Adel in der Tugend liege“. Weiter weiß er darzutun, daß es „nun einmal die Natur der Weibsbilder sei, den zu verachten, der sie liebe und den zu lieben, der sie verabscheut“. Daß die Damenwelt seinen Geist umtrieb, läßt sich unschwer an weiteren Werken ablesen, die er mit „ausgelassenen Frauenzimmern“, „Großsultaninnen“ sowie „erlauchten Scheuermägden“ betitelte. Es ist wohl unserem zur Dekadenz neigenden Zeitgeist zuzurechnen, daß es neuere, verbissene Forschungen gibt, die trotz Ermangelung jedweden Beleges, mittels Linguistik und gewagten Annahmen zu belegen suchen, Cervantes sei schwul gewesen.

1590 reichte Cervantes seine Kandidatur für den einträglichen Gouverneursposten der mexikanischen Region Soconusco ein, was einer Mischung aus Übermut und Verzweiflung entsprungen sein mag. Er wurde abschlägig beschieden. Statt schwelgerischen Lebens in malerischen Gefilden wanderte er – nach einem Posten in der Marineverwaltung – 1597/98 wegen Veruntreuung von Staatsgeldern zu einer unfrei-willigen Kasteiung in den berüchtigten Gefängnisturm von Sevilla. 

Dort nun schuf er den Anfang seines voluminösen, zeitlosen Hauptwerks „El ingenioso Hidalgo Don Quijote de la Mancha“, dessen erster Teil am 16. Januar 1605 erschien, zehn Jahre darauf Teil zwei. Nun endlich stellte sich auch der lebenslang ersehnte finanzielle Erfolg ein. Doch, ach, das Geld zerrann ihm und er verstarb – nahezu mittellos – am 23. April 1616 in Madrid. Immerhin wurde er in einem Kloster im Literaten-Quartier bestattet. „Errang er auch nicht ganz den Sieg, erlag er doch großem Bestreben“, ließ er seinen Ritter von der traurigen Gestalt einmal trotzig dartun.

Erst 2015 konnten seine Gebeine identifiziert werden, wozu seine Kriegsverletzungen sich erstmals als dienlich erwiesen. Wie er aussah – wir wissen es nicht; trotz einer leicht ironischen Selbstbeschreibung, die aber eher kryptisch daherkam. Glattrasiert wie sein Filmdarsteller Horst Buchholz darf man sich ihn gewiß nicht vorstellen. Eher knebelbärtig wie er auf den spanischen Euro-Münzen eingraviert ist, die für seinen Rang sprechen; neben ihm fand nur der spanische Monarch Gnade vor den Augen der Währungshüter.

Heute sind dem Romancier und Bühnenautor nicht nur in Spanien, als dessen Nationaldichter er verehrt wird, hehre Denkmäler und Kulturinstitute gewidmet. 2002 wählten – organisiert vom Osloer Nobelinstitut – hundert renommierte Schriftsteller Don Quijote zum „Besten Buch der Welt“. Unzählige Größen der Kunstwelt haben sich mit Cervantes befaßt, von Dostojewski über Nietzsche bis Goethe (der indes Calderón etwas vorzuziehen schien) – am treffendsten wohl Pablo Picasso 1955 in seiner Tuschzeichnung „Don Quijote“.

Miguel führte ein Leben ohne Rückversicherung, ein Menschenleben war damals leicht verderbliche Ware. Abenteuerlich und schneidig war er, für Freunde nobel und verläßlich. Verblüffend wie ein Mensch dieser Prägung – vom Sklaven bis zum Schuldeneintreiber – sich über Nacht zu einem solch geistreich reflektierenden Moralisten der Feder wandeln konnte. 

Don Quijotes getreuer Schildknappe Sancho Pansa, klein und dick auf seinem bedauernswerten Esel prangend, brilliert nicht selten mit saftigen, bockig-schlauen Anmerkungen über seinen geschätzten Herrn. Seine Hingabe pointiert er mit beachtlichen Vorbehalten, obgleich er dafür so manches Mal Prügel einfängt: „… wenn mein Herr ein so glückliches Händchen hat, daß er diesen Hurenbock von Riesen tötet, und töten wird er ihn bestimmt, falls er auf ihn trifft und falls er kein Gespenst ist, weil gegen Gespenster richtet mein Herr nichts aus.“ Als sein Herr sich entschloß, den Beinamen „von der traurigen Gestalt“ anzunehmen, wollte er sich auf seinen Schild eine tieftraurige Figur malen lassen, woraufhin ihn Sancho wissen läßt: „Da könnt ihr Euch Zeit und Geld sparen, Euer Gesicht allein steht schon dafür.“ Und auch: „Ihr würdet besser zum Prediger taugen, als zum fahrenden Ritter.“

„Don Quijote“ wirkt, als sei er gestern verfaßt worden 

Deutschland sah er, der hochbegabte Urvater des Romans, nie; aber es las ihn, seit 1799 die erste Übertragung von Ludwig Tieck erschien. Alte Bücher kommen uns nicht selten auch altbacken vor. Nicht so Quijote: unbegreiflich modern, in tiefverästelnder Menschenkenntnis. Zeitnah wirkend, als sei er gestern erst verfaßt worden. Häufig ungemein komisch, burlesk. Mit einem Hauptdarsteller, der Züge des tölpelhaften Monsieur Hulot bis hin zum feinsinnigen Humor Loriots zeigt. 

Für jeden hat der zweimal Exkommunizierte etwas parat. Für schlagende Choleriker gediegene Ausflüchte: „Verzeih mir meinen Zorn, der Mensch hat seine ersten Regungen nicht in der Hand.“ Für zahnärztliche Privatkunden Beschwichtigung: „Ein Zahn ist wertvoller als ein Diamant.“ Selbst für Manager ist etwas dabei: „Doch ans Werk, denn im Verzug liegt die Gefahr.“ Auch Budgetverschwendern im Verteidigungsbereich spendet er Trost: für die Erreichung des höchsten Gutes der Menschheit, des Friedens, stellt er am Ende des Tages die Waffenkunst noch über Gerechtigkeit und Gesetzeseinhaltung. Weiß aber auch: „Wer sich in Gefahr begibt, kommt darin um.“

Und immer wieder bestrickende Liebestexte, derer die Internetgeneration nicht mehr kapabel ist. Nun ist es hohe Zeit, Cervantes wieder aufzuschlagen. Zumal: 2008 erschien „Don Quijote“ in einer von Susanne Lange brillant, ja kongenial übersetzten deutschen Fassung, welche ganz zu Recht glänzend rezensiert wurde – welch’ ein Œuvre, hie wie da – und kürzlich erst zur Ergänzung Uwe Neumahrs tiefgründelnde Cervantes-Biographie.