© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/16 / 29. April 2016

„Europaweit in einer schweren Krise“
Stahlindustrie: Macht Thyssen-Krupp künftig mit dem indischen Tata-Konzern gemeinsame Sache?
Christian Schreiber

Keiner, keiner schiebt uns weg!“ skandierten 20.000 Stahlarbeiter und Familienangehörige im Herbst 1987 auf einem ökumenischen Gottesdienst in einer Krupp-Werkshalle in Duisburg. Sie wollten nicht hinnehmen, daß die Rheinhausener Hütte zum Jahresende 1988 geschlossen werden sollte. Doch Brückenblockaden, Mahnwachen, Protestmärsche und der kämpferische Schimanski-Tatort „Der Pott“ mit Götz George konnten Krupp letztlich nicht umstimmen – 1993 wurde das Werk endgültig geschlossen.

Millionen Arbeitsplätze in Europa gefährdet

Ende der achtziger Jahre verdienten noch 288.000 Beschäftigte ihren Lohn an den Hochöfen und in den Walzwerken der alten Bundesrepublik. Heute arbeiten nach Angaben der Wirtschaftsvereinigung Stahl noch rund 86.000 in der Branche. Knapp 40.000 Stahlkocher und Sympathisanten gingen nun im April deutschlandweit auf die Straße – mit Unterstützung ihrer Chefs, denn vor allem die Politik in Berlin und Brüssel droht nun auch noch verbliebenen Stahlarbeitsplätze zu vernichten.

„Geht der europäische Stahl den Bach runter, dann sind Millionen von Arbeitsplätzen in Europa in Gefahr“, warnte IG-Metall-Chef Jörg Hofmann vor etwa 18.000 Demonstranten bei einer Kundgebung vor den Toren des größten deutschen Stahlkonzerns Thyssen-Krupp in Duisburg-Ruhrort. Mehr als 20.000 waren es im saarländischen Dillingen. Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) erklärte unter dem Jubel der Massen, daß die Branche für ihr Bundesland „geradezu lebenswichtig“ sei: „Wir werden euch nicht alleine lassen.“ Die Reaktionen zeigen, wie ernst die Lage ist. Die deutsche Stahlindustrie hat in den vergangenen Jahrzehnten eine Zäsur hinter sich. Aus den verstaubt wirkenden Anlagen des Wirtschaftswunders sind kleinere, aber hochproduktive Werke entstanden. Die Rohstahlerzeugung ist in den vergangenen Jahren nur leicht von 43,8 Millionen auf zuletzt 42,7 Millionen Tonnen gesunken – bei gleichzeitigem massivem Arbeitsplatzabbau. 

Doch die einheimische Stahlindustrie kämpft an mehreren Fronten: Einerseits drücken niedrige Preise bei einem zu großen Angebot. Die Situation wird durch wachsende Importe aus China und den geplanten Fall der EU-Schutzzölle verschärft (JF 10/16). Das mit Abstand größte Stahlherstellerland kämpft ebenfalls mit hohen Überkapazitäten – fast die Hälfte der globalen Stahlproduktion stammt inzwischen aus dem Reich der Mitte. 1990 waren es noch 8,7 Prozent. Mit einem Marktanteil von 2,6 Prozent liegt Deutschland derzeit auf Platz sieben in der Weltrangliste. Ähnlich wie die Japaner (6,5 Prozent Weltmarktanteil) bieten deutsche Firmen allerdings vor allem hochwertige Stahlsorten an.

Deutscher Branchenprimus ist Thyssen-Krupp, der zuletzt 12,4 Millionen Tonnen pro Jahr produzierte. Nummer zwei ist der von dem Inder Lakshmi Mittal geleitetete Weltmarktführer Arcelor-Mittal, der in Deutschland 7,8 Millionen Tonnen produziert. Dahinter folgen Salzgitter (6,8 Millionen Tonnen) sowie die beiden saarländischen Stahlunternehmen Saarstahl (2,8) und Dillinger Hütte (2,4). Mit 17,2 Milliarden Euro hält die einheimische Stahlindustrie einen Anteil von rund 30 Prozent an der Branchen-Wertschöpfung in Europa.

Etwa zwei Drittel des Stahls werden in Deutschland in integrierten Hüttenwerken (Hochofen, Stahl- und Walzwerk) produziert, ein weiteres Drittel über die Elektrostahlroute hergestellt. Deutsche Stahlwerke gelten im internationalen Vergleich als extrem modern und produktiv – und die Standorte liegen in strukturschwachen Regionen wie dem Ruhr- oder Saargebiet. Ein neuerlicher Arbeitsmarktexodus hätte gravierende soziale Auswirkungen.

Dennoch sind die Probleme teilweise auch hausgemacht. „Die Branche befindet sich europaweit in einer schweren Krise“, klagte Niedersachsens Wirtschaftsminister Olaf Lies (SPD), und nannte als Beispiel die Entscheidung der Salzgitter AG, in diesem Jahr Hunderte Stellen streichen zu wollen. Er wolle verhindern, daß den „Beschäftigten in der deutschen Stahlindustrie ein ähnliches Schicksal wie in anderen Teilen Europas droht“, betonte Lies (JF 16/16).

Doch EU-Klimapläne, Angela Merkels Energiewende und das rot-grüne Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) nehmen wenig Rücksicht auf die energieintensive Stahlindustrie. Landesminister Lies verlangt daher, die hocheffiziente Eigenstromanlagen der Stahlwerke auch über das Jahr 2017 hinaus von der EEG-Umlage zu befreien und „zusätzliche kostenlose Zertifikate für den Emissionshandel“ bereitzustellen. Doch der 2005 gestartete CO2-Emissionsrechtehandel ist ein Brüsseler Steckenpferd, das es ohne die Schröder-Regierung nie gegeben hätte. 

Kommt bald Tata oder die „Deutsche Stahl AG“?

Die deutschen Stahlmanager setzen auf Innovation und Spezialisierung – und versuchen zu sparen, wo es nur geht. Bei Thyssen-Krupp hat man sich auf eine 31-Stunden-Woche verständigt, um einen umfangreichen Stellenabbau zu vermeiden. Immer wieder geistern auch Fusionsgerüchte durch die Branche. Im Saarland kooperieren Saarstahl und Dillinger Hütte seit längerem miteinander. Thyssen-Krupp plant derzeit zweigleisig: Es wird mit dem indischen Konzern Tata Steel verhandelt und alternativ über eine Fusion mit Salzgitter zur Deutschen Stahl AG diskutiert. Dies könnte aber an kartellrechtlichen Bedenken scheitern. 

Die Group Tata ist ein gigantisches Industriekonglomerat mit Sitz in Bombay (Mumbai), das ursprünglich 1869 von dem Perser Jamshedji Tata gegründet wurde. Tata Steel übernahm bereits 2007 den britisch-niederländischen Konkurrenten Corus. Ein im holländischen IJmuiden gelegenes Tata-Stahlwerk könnte in ein Gemeinschaftsunternehmen mit Thyssen-Krupp eingebracht werden – was in Bochum, Dortmund oder Duisburg böse Erinnerungen an 1987 aufkommen läßt.