© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 18/16 / 29. April 2016

Der Flaneur
Freundlichkeit reist mit
Sebastian Hennig

Wandermüde und schwer ruhen wir in den Polstern der Bahn. Der kleine Grenzverkehr bringt uns längs des Stroms nach Hause. Draußen senkt sich Dunkel über das Land. Drinnen sind alle entspannt, einerseits aus Erschöpfung, aber auch des Wochenendes wegen. Wenn werktags das arbeitende Volk einem unsanft abgebrochenen Morgenschlaf auf dem Arbeitsweg noch ein wenig nachhängen will, kommt ihm die Aufforderung, den Fahrschein vorzuweisen, äußerst ungelegen.

Heute ist das ganz anders. Denn dieser sanften Erschöpfung hat man sich freiwillig ausgeliefert. Die Betäubung macht jedermann friedlich. Die Begegnung ist von lockerer Höflichkeit.

„Ein wichtiger Hinweis. Draußen regnet es. Bitte die Regenschirme bereithalten.“

Der Kontrolleur ist gleichfalls ein der Entspannung bedürftiges Lebewesen. Personen mit so vielfältig wechselndem Menschenkontakt sind zur Kauzigkeit geschaffen. Regelmäßige Schulungen wollen ihnen die menschlichen Kanten abschleifen und sie wieder zu Funktionären schärfen. Aus Schaffnern sind Zugbegleiter geworden. Das klingt nicht mehr wie eine Aufgabe, sondern wie die Bezeichnung eines Bauteils. Warum werden sie eigentlich nicht als Zugbegleitende bezeichnet?

Gewissenhaftigkeit und Gemüt müssen einander nicht ausschließen. Der behagliche Mann, der heute an Bord ist, kann bestimmt sehr nachdrücklich werden, sobald das erforderlich wird. Doch die harmlose Gesellschaft kichernder und plaudernder Frauen und dösender Wanderer ist keiner Aufsicht bedürftig, statt dessen schenkt er persönliche Zuwendung. Nachdem er die Aufgaben von Mensch zu Mensch verrichtet hat, wird seine Stimme über die Sprechanlage vernehmbar. Da tut er mehr, als er muß: „Jetzt kommt Krippen und in zwei Minuten Bad Schandau. Fünfzig Meter hinten steht Ihr Zug.“ Die Notdurft unseres reisenden Durchzugs veredelt er zu einem gastfreundlichen Verhältnis. „Ein wichtiger Hinweis. Draußen regnet es. Bitte die Regenschirme bereithalten.“ Das wirkt bereits, als würde er den Schirm über uns entfalten. Der gute Mann verabschiedet sich: „Einen wunderschönen guten Abend wünsche ich.“