© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/16 / 06. Mai 2016

Konkurrenz belebt
Reformen: Wo eine politische Alternative ist, gibt es auch einen Weg zur Veränderung
Michael Paulwitz

Ungewohnte Geschäftigkeit macht sich in der Großen Koalition bemerkbar. Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) legt unverhofft einen Gesetzesentwurf vor, der dem innereuropäischen Sozialtourismus nach Deutschland einen Riegel vorschieben soll: Arbeitslose EU-Bürger, die in Deutschland nicht gearbeitet haben, sollen künftig fünf Jahre lang von Sozialhilfe und Hartz-IV-Leistungen ausgeschlossen sein. Vorher soll der „verfestigte Aufenthalt“ nicht greifen, den ein Urteil des Kasseler Sozialgerichts zuletzt schon spätestens nach sechsmonatigem Aufenthalt feststellen wollte.

Fast zeitgleich spricht sich Unions-Fraktionschef Volker Kauder (CDU), der vor wenigen Jahren noch zum Bau weiterer Moscheen aufrief, für deren staatliche Kontrolle aus – dort werde so manches gepredigt, was „mit dem deutschen Staatsverständnis nicht vereinbar“ sei. Unter dem Beifall der CSU, deren Generalsekretär Andreas Scheuer mit der Forderung auftrumpft, Imame darauf zu verpflichten, auf deutsch zu predigen, um aufhetzerische Reden und Propaganda zu erschweren.

Keiner dieser Vorschläge kommt von ungefähr. Die Möglichkeit einer Sozialhilfesperre für EU-Zuwanderer hat der britische Premier David Cameron in seinen Verhandlungen mit der EU über ein Reformpaket herausgeschlagen, um gegenüber den Befürwortern eines britischen EU-Austritts mit Maßnahmen gegen eine besonders groteske Nebenwirkung der EU-Personenfreizügigkeit punkten zu können. Deutschland profitiert hier also vom britischen Verhandlungsgeschick.

Daß die Regelung so zügig übernommen wurde und bei der von Cameron ausgehandelten Wartezeit für den Sozialhilfebezug sogar noch ein Jahr draufgeschlagen wurde, hat jedoch noch andere Gründe. Der SPD heizen nämlich nicht nur die eigenen Bürgermeister ein, deren Haushalte durch ausufernde Sozialleistungsansprüche schon jetzt bis jenseits der Schmerzgrenze strapaziert werden. 

Auch die AfD sitzt der SPD im Nacken, deren einstige Wählerklientel zu den Hauptleidtragenden der Risiken und Nebenwirkungen der Einwanderung in die Sozialsysteme gehört, die sie mit ihren Steuergeldern finanzieren darf, während sie gleichzeitig die härter werdende Konkurrenz auf dem Wohnungsmarkt zu spüren bekommt. Da kann sich dann auf einmal auch eine SPD-Bundesministerin erlauben, das Geschrei vom „Sozialabbau“ der grün-linken Opposition zu überlassen.

Noch bedrohlicher hängt das Damoklesschwert der AfD-Wahlerfolge über den Unionsparteien. Zwar sind die Vorschläge Kauders und Scheuers ein gutes Stück Alibipolitik: Einzelne radikale Moscheegemeinden hat der Verfassungsschutz ja schon im Visier, wie Bundesinnenminister de Maizière sogleich pikiert anmerkte, und die Überlegungen des CSU-Generalsekretärs zur Predigtsprache der Imame kratzen ebenso allenfalls an der Oberfläche der mit unkontrollierter Masseneinwanderung aus dem islamischen Kulturkreis einhergehenden Probleme. Daß man diese überhaupt zur Kenntnis zu nehmen beginnt und mit hektisch verkündeten Maßnahmen zumindest den Eindruck zu erwecken versucht, auch zu handeln, läßt indes wiederum vor allem den einen Schluß zu: Die AfD wirkt.

Eine Politikwende ist das alles freilich noch nicht. Es zeigt aber, wie allein das Erstarken einer politischen Konkurrenz, die durch das Benennen lange Zeit fahrlässig ignorierter Probleme Erfolg um Erfolg einfährt, die politische Agenda verändern kann. Im Nachbarland Österreich, wo inzwischen die FPÖ bei der Handhabung der Asylkrise faktisch den Takt vorgibt, läßt sich dieser Effekt schon seit geraumer Zeit beobachten.

Deutschlands Großkoalitionäre scheinen sich nur schwer von dem Glauben zu lösen, der Aufstieg der AfD sei ein vorübergehendes Phänomen, das wieder verschwinden werde, wenn man ein bißchen Handlungsfähigkeit und Entschlossenheit demonstriere und die Asylkrise wenn schon nicht löse, so doch unter dem Eindruck sinkender Zahlen für demnächst gelöst erkläre.

Das könnte sich schon bald als Fehlkalkulation erweisen. Der Protest gegen die Merkelsche Asylpolitik ist nur ein Anlaß, an dem die tiefgreifende Vertrauenskrise des politischen Establishments akut geworden ist. Diffamierung, Denunzierung und Ausgrenzung der Kritiker heizen diese Vertrauenskrise eher noch an; taktisches Entgegenkommen allein kann sie freilich ebensowenig aus der Welt schaffen.

Das Zeitfenster für eine echte Politikwende wird für die etablierten politischen Kräfte immer enger. Wer zu spät kommt, den bestraft der Wähler. Daß Österreichs Bundeskanzler Werner Faymann vom getreuen Merkel-Gefolgsmann zu einem der schärfsten Kritiker der „Willkommens“-Kanzlerin wurde, hat seiner Partei die Blamage des FPÖ-Erdrutschsiegs in der ersten Runde der Bundespräsidentenwahl nicht ersparen können. 

Trotzdem geht die rot-schwarze Regierung in Wien weiter auf FPÖ-Kurs, von der Sperrung der Grenzen über die Entsendung von Soldaten zu ihrem Schutz bis zur jüngsten Verschärfung des Asylrechts. Ein weiteres Indiz dafür, was alles möglich ist, wenn erstarrte Machtstrukturen ernsthafte Konkurrenz bekommen und fürchten müssen, daß die Abkehr vom erzwungenen Kurswechsel sich für sie noch verheerender auswirken könnte. 

Schon orakelt der Spiegel, die AfD könnte Deutschland ähnlich tiefgreifend verändern wie weiland die Grünen, und rät der Kanzlerin, abzutreten und für einen „ausgewiesenen Konservativen“ Platz zu machen, damit die Alt-Volksparteien die Entwicklung doch noch einmal einfangen könnten. Der Umbau der Achtundsechziger-Republik kann beginnen.