© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/16 / 06. Mai 2016

Eine Million kostet 398 Milliarden
Fachkräftediskussion: Laut einer ZEW-Studie für die grüne Böll-Stiftung kann humanitäre Zuwanderung die deutschen Staatsfinanzen entlasten
Jörg Fischer

Eine Million Geflüchtete kosten die deutschen Steuerzahler anfänglich pro Jahr 19 bis 21 Milliarden Euro – sprich: dafür geht die gesamte veranlagte Einkommensteuer oder ein Viertel der gesamten Lohnsteuer drauf. Langfristig summieren sich die Kosten für Unterbringung und Versorgung sowie für Sprachkurse, Qualifizierung und Integration auf bis zu 398 Milliarden Euro – das 1,25-fache eines jährlichen Bundeshaushalts.

Das behaupten nicht Thilo Sarrazin oder die AfD, sondern das läßt sich der Studie „Gewinne der Integration“ entnehmen, die der Ökonomieprofessor Holger Bonin vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) für die Heinrich-Böll-Stiftung verfaßt hat.

Geschickte Interpretation, optimistische Annahmen

Dies würde aber bedeuten: Angela Merkel und die Bundestagsparteien hätten mit ihrem 2015 gegebenen Fachkräfteversprechen unrecht – kurz: „Wir schaffen das nicht!“ Doch das paßt weder der Grünen-Stiftung noch dem arbeitgebernahen ZEW ins Konzept. Daher seien solche Zahlen nur das „ungünstigste Szenario“.

Durch geschickte Interpretation, optimistische Annahmen und „Investitionen in bedarfsgerechte Qualifikation und die Integration der geflüchteten Menschen“ läßt sich auch das Gegenteil behaupten: „Die Zuwanderung aus humanitären Gründen kann die deutschen Staatsfinanzen auf lange Sicht entlasten“, schreibt Bonin. Durch eine Million aufgenommene Geflüchtete vermindere sich „die Steuerlast der Bürgerinnen und Bürger langfristig um etwa 20 Euro pro Kopf und Jahr“. Erreiche „ein Fünftel der geflüchteten Menschen statt der fiskalischen Leistungskraft von Geringqualifizierten die Leistungskraft von Menschen mit abgeschlossener Berufsausbildung, bedeutet dies für den Staat langfristig gerechnet Zusatzeinnahmen von etwa 60 Milliarden Euro“, so der Leiter des ZEW-Forschungsbereichs „Arbeitsmärkte, Personalmanagement und soziale Sicherung“.

„In der günstigsten Variante 20 Euro Entlastung“

Voraussetzung für solche Phantasiegewinne ist eine geschickte Zahlenauswahl: Laut Ifo-Institut liegen die anfänglichen Gesamtkosten zwar bei 20.000 Euro pro Jahr und Geflüchtete – aber die lassen sich um 7.000 Euro herunterrechnen, etwa indem die Kosten für Sprachkurse, Qualifizierung und Integration herausgerechnet werden. Der Deutsche Städte- und Gemeindetag setzt daher in seinen Simulationsrechnungen lediglich 13.000 Euro pro Flüchtling und Jahr an. Zudem werden die jährlichen Pauschalbeträge in den Vorausberechnungen „mit fortschreitender Aufenthaltsdauer linear abgeschmolzen, bis am Ende des wirtschaftlichen Integrationsprozesses der für die einheimische Bevölkerung anzusetzende altersunabhängige jährliche pro Kopf-Aufwand für die allgemeine Staatstätigkeit in Höhe von 2.900 Euro erreicht wird“.

Daß 71 Prozent der schon in Deutschland lebenden Zuwanderer aus den „besonders betroffenen Asylherkunftsländern“ keinen Berufsabschluß hatten und „nur eine kleine Minderheit der derzeitigen Asylsuchenden“ eine Hochschule besucht hat, wird von Bonin nicht schöngeredet: „Wie lange die aufgenommenen Menschen benötigen werden, um die fiskalische Leistungskraft von Einheimischen zu erreichen, läßt sich heute nicht belastbar vorhersagen.“ Aber eine Simulationsrechnung ist frei gestaltbar.

Warum nicht annehmen, daß die „neue“ Million viel intelligenter, fleißiger und sprachgewandter ist als die bereits hier lebenden Afrikaner oder Araber? „In der günstigen Variante wird eine Integrationsdauer von zehn Jahren unterstellt, in der ungünstigen Variante eine Integrationsdauer von zwanzig Jahren“, erläutert Bonin. Wird zudem unterstellt, daß 80 Prozent der eine Million Geflüchteten das Niveau von Einheimischen mit Berufsausbildung erreichen – ja dann müßte jeder Bürger jährlich nicht 86 Euro mehr Steuern zahlen, sondern bekäme sogar 20 Euro ausbezahlt. Ob es bei fünf Millionen Zuwanderern 100 Euro wären und bei 25 Millionen sogar ein Fünfhunderter drin ist, verrät der ZEW-Experte nicht.

„Gewinne der Integration – Berufliche Qualifikation und Integrationstempo entscheiden über die langfristigen fiskalischen Kosten der Aufnahme Geflüchteter“ (Böll.Brief 1/16):  www.boell.de/