© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/16 / 06. Mai 2016

Technikfehler mit Technik bekämpfen
Tschernobyl: Trotz bedrückender Geschichten und Bilder verbreitet der Betreiber Optimismus
Thomas fasbender

Das Resümee des ukrainischen Kraftwerksdirektors 30 Jahre nach dem Super-GAU in Tschernobyl fällt trotz allem positiv aus: Der Preis war hoch, doch es war Lehrgeld für die Welt. Für Igor Gramotkin sind die Jahre der Depression nach der Kernschmelze in Block 4 des Atomkraftwerks am Fluß Pripjet einer regelrechten „Siegesstimmung“ gewichen: „Wir wissen jetzt, daß am Ende selbst die Folgen einer Katastrophe wie in Tschernobyl beherrschbar sind.“

Der Weg war lang, und dabei ist nur der allererste Schritt getan. Bis die Strahlenbelastung durch das 1986 in die Umwelt geratene Plutonium gegen Null sinkt, wird eine halbe Million Jahre vergehen – einer Faustregel zufolge ist es erst nach zwanzig Halbwertzeiten soweit. Für Cäsium 137, dem vornehmlich freigesetzten Isotop, bedeutet das „nur“ 600 Jahre. 

EU und Rußland tragen Löwenanteil der Sanierung

Doch was Gramotkin mit dem Umschlag der Niederlage in einen Sieg im Sinn hat, ist nicht die Überwindung der Folgen der Katastrophe, sondern der Umschlag von der Defensive zur Offensive im Umgang mit ihnen. 

Steht man vor der fast fertiggestellten zweiten Schutzhülle, dem New Safe Confinement, wird der Begriff Offensive greifbar. Ein schimmernder, riesiger Bogen in der Form eines Flugzeughangars, nur ungleich größer und mit einer 40.000 Tonnen schweren und zehn Meter dicken Wand aus Stahlgerüst und Stahlplatten, wölbt sich kilometerweit sichtbar in die Höhe. 

Es ist das größte jemals von Menschenhand produzierte bewegliche Konstrukt. Notre-Dame de Paris inklusive ihres Dachreiters verschwände locker unter der 108 Meter hohen Decke, ebenso die Freiheitsstatue von New York. 

Gut 300 Meter östlich steht der schmutziggraue, verwitterte Reaktorbau mit der improvisierten Schutzhülle aus den Monaten nach der Katastrophe. Seine sowjetische Herkunft ist unübersehbar – so trist und todmüde im Kampf gegen die radioaktive Katastrophe wie alles Leben unter den Bedingungen des realen Sozialismus.

Die neue Schutzhülle, die aus Sicherheitsgründen in einiger Entfernung errichtet wurde, wird Ende des Jahres auf Schienen über das Reaktorgebäude geschoben und im November 2017 einsatzbereit sein. 

Sie ist auf 100 Jahre ausgelegt. Bis dahin gilt es, drei Aufgaben zu erledigen: Rückbau des ursprünglichen Sarkophags, Zerkleinerung und Beseitigung allen verstrahlten Materials – und dann die größte, bislang nicht einmal konzeptionell gelöste, nämlich die Behandlung und Endlagerung der tonnenschweren „Lava“ aus geschmolzenen Brennstäben, Stahl und Beton. 

Die neuerrichtete Hülle schützt nicht vor Radioaktivität, wohl aber vor dem Austreten von kontaminiertem Staub. Zwei Deckenkräne, massive Staubsauger und Roboter verrichten ab 2018 bei leichtem Unterdruck im Inneren die Drecksarbeit.

Es ist ein Unterschied wie Tag und Nacht: Der gespenstisch unbelebte Kraftwerksblock 4, der wie ein Mahnmal des Scheiterns im Hintergrund aufragt, und das Gewusel auf der Baustelle des grandiosen Stahlbogens. Ein französisches Konsortium namens Novarka ist für den über zwei Milliarden Euro teuren Bau verantwortlich. Die Finanzierung kommt aus fast 30 Ländern, den Löwenanteil tragen die Europäische Union und Rußland. 

„Mad Max“-Kulisse im Sumpfland von Pripjet  

2.500 Menschen aus aller Herren Länder sind dort beschäftigt. Die meisten arbeiten drei Tage am Stück und übernachten in der menschenleeren Ortschaft Tschernobyl, dann verlassen sie für vier Tage das Sperrgebiet. Für einige gilt auch eine 15tägige Schicht: zwei Wochen Einsatz, zwei Wochen Erholung. Jeder trägt zwei Dosimeter am Körper, die bei Erreichen der Grenzwerte Alarm auslösen. Die Pflicht zum Tragen von Schutzanzügen auf der Baustelle wurde Anfang April aufgehoben.

Wer zum erstenmal nach Tschernobyl kommt, wundert sich, wie nahe man dem havarierten Reaktor kommen darf. Kaum vorstellbar, daß dort, keine 200 Meter entfernt, eine kompakte Masse aus Uran- und Plutonium-Isotopen unter Schutt und hinter den Wänden des notdürftigen Sarkophags vor sich hinglüht. 

Doch solange kein kontaminiertes Material nach außen dringt, ist die elektromagnetische Gammastrahlung die einzige Gefahr. Deren Intensität sinkt mit dem Quadrat der Entfernung. Auch an den Umweltschäden bis weit nach Skandinavien und Westeuropa war nicht der strahlende Reaktorkern schuld, sondern der kontaminierte Niederschlag nach der Explosion und dem tagelangen Brand der Graphitmoderatoren. 

Selbst wenn nur gut drei Prozent des Brennmaterials freigesetzt wurden (viele Experten gehen von wesentlich mehr aus), waren es immer noch an die sechzig Millionen Curie, das Dreißig- bis Vierzigfache der Radioaktivität der Hiroshima-Bombe vom August 1945. 

Die radioaktive Belastung des Kraftwerksareals liegt heute nur unerheblich über Normalniveau. Schon bald nach der Havarie wurden dort Hundertausende Kubikmeter Erdreich ausgetauscht. Anders sieht es in Teilen der Zehn-Kilometer-Zone aus. Entlang der Straßen wurde der Boden tief ausgebaggert und ersetzt. 

Waldeinwärts jedoch – Felder oder Ackerflächen gibt es nach 30 Jahren Brache nicht – reagiert der Geigerzähler sofort. Knapp einen Zentimeter im Jahr versinkt der kontaminierte Niederschlag im Erdboden. Und die Strahlung der Cäsium-Isotope im Jubiläumsjahr ist immer noch halb so hoch wie am ersten Tag. Kein Wunder, daß der offizielle Begleiter konsequent einschreitet, wenn ein Besucher den Fuß neben die Fahrbahn setzt: Verboten! 

Dennoch sind Tschernobyl-Ausflüge bei Ukraine-Touristen begehrt. Bei Forbes International steht das Kraftwerk seit Jahren auf der Liste der „world‘s unique places to visit“. Das gleiche gilt für reiche Jäger aus Rußland und der Ukraine: Gegen ein dickes Bestechungsgeld lassen sie sich illegal auf starke Hirsche und Keiler führen. Während auf dem Kraftwerksgelände kein Vogelschrei zu hören ist, gedeiht das Wild in den naturbelassenen Randgebieten der Sperrzone wie kaum sonst in Europa. 

Es ist eine „Mad Max“-Kulisse im Sumpfland des Pripjet, eine verseuchte und gemiedene Welt. Vom Wald verschluckte Dörfer, verfallene Hütten am Straßenrand, Paß- und Fahrzeugkontrollen am Eingang zu den Dreißig-Kilometer- und Zehn-Kilometer-Sperrzonen. Die Geisterstadt Pripjet nördlich des Kraftwerks, bis 1986 Heimat der meisten seiner Mitarbeiter, ist in vielen Bildbänden dokumentiert. 

Der Optimismus des Kraftwerksdirektors ist teuer erkauft, aber er steht auf realistischen Füßen. Einen weltweiten Ausstieg aus der Kernenergie hält Gramotkin für ausgeschlossen. Sonne und Wind, da hat er keine Zweifel, können die Anforderungen, die acht oder neun Milliarden Menschen an Komfort, Transport und Kommunikation stellen, nicht erfüllen. 

Zudem müsse so rasch wie möglich die Verbrennung fossiler Energieträger gestoppt werden. Sein eigentliches Argument jedoch ist, daß der technische Fortschritt zu allen Zeiten stärker war als jeder Widerstand: „Warum ist die Menschheit nach dem Untergang der „Titanic“ nicht aus der motorisierten Schiffahrt ausgestiegen?“ Technikfolgen würden mit neuer Technik bekämpft. Philosophen mögen räsonieren, ob diese und andere Techniken sich am Ende des Fortschritts nicht doch wie eine Waffe gegen ihre Schöpfer richten, gegen den Menschen. Doch Philosophen seien eben in der Minderzahl. 

Dosimeterdaten sorgen für Erleichterung 

Der Anblick der Arbeiter auf dem Bauplatz der Zwei-Milliarden-Euro-Hülle von Tschernobyl spricht eine deutliche Sprache. Und es ist nicht die von Absage, Ausstieg und Entsagung.

Bequemlichkeit à la Schengen darf man von einer Reise nach Tschernobyl nicht erwarten. Mindestens sieben- oder achtmal wurden in der Sperrzone die Pässe kontrolliert und mit der Liste des Begleiters verglichen. Fünfmal der bange Test in einem Ganzkörper-Dosimeter: Handflächen und Unterarme links und rechts an den Metallrahmen gelegt, die Schuhsohlen auf ausgesparte Gitterroste, Glühlampen blinken, dann signalisiert ein grünes Licht, das alles in Ordnung ist.

Am Ende sind es drei Mikrosievert, um die uns der siebenstündige Aufenthalt bereichert – soviel wie ein Flug von Frankfurt nach Rom.