© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/16 / 06. Mai 2016

Pankraz,
die Kopfschüßler und der fühllose Dozent

Noch so manches ältere Semester in Wien erinnert sich an den „Kopfschüßler“, eine Mitte des vorigen Jahrhunderts von Gelehrten und Veranstaltern der Stadt gefürchtete Figur, die auf höchst originelle Weise zahllose Vorlesungen, Seminare und öffentliche Vorträge kaputtmachte. Der Mann saß meistens gut sichtbar in einer vorderen Reihe, hörte zu – aber plötzlich stand er auf, zappelte wild herum und schrie dazu unaufhörlich: „Halt’s mi z’ruck, i bin a Kopfschüßler, halt’s mi z’ruck, i bin a Kopfschüßler …“

Die Veranstaltung endete regelmäßig im Chaos. Doch man konnte nichts gegen den Kopfschüßler unternehmen. Der Mann war an sich recht klug und gutartig, hatte sein Eintrittsgeld – soweit welches erhoben wurde – stets ordentlich bezahlt, interessierte sich wirklich glaubhaft für das verhandelte Thema. Nur manchmal drehte er eben durch, besonders wenn die Dozenten in ihrem Vokabular etwas dramatisch wurden. Es war ihm selber peinlich, er wollte, daß man ihn bändigte, zurückhielt. Denn er war ein Kopfschüßler, war im Krieg schwer am Kopf verwundet worden. Den übrigen Besuchern der Veranstaltung tat er leid.

An diesen Wiener Kopfschüßler muß Pankraz denken, wenn er die vielen, sich in letzter Zeit rapide häufenden „Vorfälle“ an US-amerikanischen Elite-Universitäten, Harvard, Yale, Princeton, Stanford, betrachtet. Auch dort werden immer mehr Vorträge gestört, in Chaos verwandelt und zum Abbruch getrieben, aber nicht – wie einst in wilden 68er-Zeiten –, weil die zuhörenden Studenten etwas gegen die Inhalte hätten, die ihnen da geboten werden, oder gegen die „reaktionäre Ideologie“, die möglicherweise dahintersteckt, sondern ausschließlich gegen den „unmenschlichen Stil“, in dem die Dozenten angeblich vortragen.


Es wird also nicht das „Was“ in Frage gestellt und niedergemacht, sondern das „Wie“. Nicht mehr die Frage, ob ein Dozent „rechts“oder „links“ ist, spielt eine Rolle, sondern einzig noch die Art, wie er seine Inhalte sprachlich und gestisch zu Gehör und Gesicht bringt. Es geht dabei aber keineswegs um rhetorisches oder angemessen akademisches Niveau, fast im Gegenteil. Gerade jene Dozenten, welche sich talentvoll an eingeschliffene akademische, die Sachen strikt objektivierende Formulierungen halten, sie also echt „verwissenschaftlichen“, werden attackiert. Ihnen fehle jede Empathie, bekommen sie zu hören.

Typischer Vorfall, kürzlich in Harvard: Ein hochangesehener, allgemein eher als „links“ eingeschätzter Historiker hält eine Vorlesung über den Sklavenhandel zwischen den USA und Afrika im 19. Jahrhundert. All die Kalamitäten und Grausamkeiten des Vorgangs, einschließlich der Behandlung von weiblichen Sklavinnen durch Verkäufer und Käufer, werden genau beim Namen genannt und analysiert. Es gibt eine Menge zu lernen und mitzuschreiben für die Zuhörer.

Dennoch erhebt sich aus dem Auditorium eine dunkelhäutige Dame, schon etwas gereifteren Alters und mit einer kleinen Sprachhemmung, und beginnt, den dozierenden Historiker frontal anzugreifen, und zwar ohne vorher um Erlaubnis zu fragen oder sich für die abrupte Störung zu entschuldigen. Was man hier geboten bekomme, sagt sie, sei im Grunde ein riesiger Skandal. Die „Sprache der weißen Sieger“ werde unverfroren verewigt und wirke auf sie, deren Urahnen aus Afrika stammten, wie die Peitschenschläge der damaligen Sklavenhändler. So könne und dürfe es nicht weitergehen. 

Der Professor behält die Fassung, bleibt ruhig, verweist auf das Seminar, das dieser Vorlesung im laufenden Semester beigefügt sei und zu dem sich die Zwischenruferin ohne weiteres anmelden könne. Dort könne man alle anfallenden Fragen ausführlich diskutieren, doch jetzt wolle er zunächst einmal, bitte, seine Vorlesung zu Ende führen dürfen. Aber es ist vergeblich. Die Vorlesung geht nicht mehr weiter, löst sich auf in über die Bänke hinweg diskutierende Grüppchen. Die Gruppe, die den Dozenten vereinnahmt, ist nicht identisch mit derjenigen, wo die Zwischenruferin weiter das große Wort führt.


Wohlgemerkt, diese Harvard-Episode ist kein sensationeller Ausnahmefall, über den die Medien wie über einen farbenreichen Kriminalfall berichten, sondern es ist der schlichte Normalfall im aktuellen amerikanischen Universitätsleben, über den sich längst niemand mehr aufregt. Linke europäische Geistesgrößen wie Slavoj Žižek oder Ilja Trojanow, die in letzter Zeit zu Gastdozenturen an US-Universitäten eingeladen waren, haben bereits darüber geschrieben, und es war fast amüsant zu lesen, wie erstaunt sie über die Vorgänge waren und wie schwer es ihnen fällt, sie in ihr Weltbild einzuordnen.

Sie sollten vielleicht weniger bei Marx/Engels oder bei Freud nachschlagen und sich lieber an den  Kopfschüßler von Wien erinnern, über den seinerzeit William S. Schlamm eine erhellende Kolumne geschrieben hat. In Schlamms weiser Voraussicht war diese Figur nichts weniger als das negative Abziehbild des intellektuellen Medienlieblings im 21. Jahrhundert: eine Mißgeburt aus dem Dreck und dem Feuer des zwanzigsten, seine Kopfschuß-Blödigkeit ungeniert einsetzend für die Chaotisierung der wirklichen Lebenswelt und gleichzeitig um Entschuldigung dafür bittend.

Freilich, der Kopfschüßler von Wien führte zur Entschuldigung für seine Raserei immerhin an, daß die jeweiligen Dozenten, denen er zuhörte, „allzu dramatisch“ gesprochen hätten und seinen armen Kopf dadurch „aufregten“. Seine heutigen Nachfolger an den Elite-Universitäten sehen es genau andersherum. Für sie sind die Dozenten allzu undramatisch, nämlich allzu wissenschaftlich-sachlich. Wissenschaftliche Sachlichkeit ist für sie ein Ausweis fehlender Empathie. Man muß, wenn sie immer einflußreicher werden, das Schlimmste für Harvard & Co. gewärtigen.

Wissenschaft ist weder Krankenhaus noch Operettentheater. Sachlichkeit und Empathie gehören zusammen. Ohne Empathie würden alle zu Robotern. Aber ohne Sachlichkeit wären wir alle nur noch Brüllaffen.