© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 19/16 / 06. Mai 2016

Das europäische Projekt darf nicht sakralisiert werden
Der Politikwissenschaftler Peter Graf Kielmansegg warnt vor der Gefahr, daß die Europäische Union zum „Octroi der Eliten“ verkommt
Peter Seidel

Nur Demokratien dürfen Mitglied der EU werden; sind sie aber einmal drin, entzieht ihnen Brüssel mehr und mehr an „demokratischer Substanz“. Ein Paradoxon, doch der Grund ist einfach: Die EU will selbst ein Staat werden, und so zieht sie die Macht an wie ein schwarzes Loch die Materie. Peter Graf Kielmansegg, emeritierter Professor für Politikwissenschaft, untersucht in seinem neuen Büchlein „Wohin des Wegs, Europa? Beiträge zu einer überfälligen Debatte“, wie das vor sich geht.

Das Buch ist eine Aufsatzsammlung der verfassungsrechtlichen und demokratietheoretischen Arbeiten Kielmans-eggs von 2008 bis 2014, wobei drei Beiträge und das Vorwort bisher unveröffentlicht sind. Vergleicht man diese, so wird deutlich, daß die neueren Aufsätze einen qualitativen Unterschied im Vergleich zu den älteren aufweisen. Dieser Unterschied besteht in der deutlich besorgteren Einschätzung der aktuellen Entwicklungen in der EU. Die Zäsur bildet das Jahr 2010, das Jahr der ersten „Griechenlandrettung“. Seitdem haben sich Kielmanseggs europapolitische Befürchtungen klar verschärft. 

Derzeitiges Hasardspiel gefährdet Bestand der EU

Fehlentwicklungen benennt der Autor klar: Die EZB betreibe „indirekte Staatsfinanzierung“, der ESM sei der „Widerruf“ des Bail-out-Verbots, also der Haftung für die Schulden anderer Staaten, der Fiskalpakt habe „wenig bewirkt“, die Währungsunion sei „faktisch gescheitert“, hinzu kämen ein „bundesstaatlicher Finanzausgleich“ und damit eine weitere Dauersubvention für die Südländer. Um dies abzufedern drohe eine zunehmende „Entdemokratisierung des Integrationsprozesses“, der sich zu einem „Octroi der Eliten“ entwickle, weshalb die Kluft zum Bürger wachse. Die Bundesregierung werde sich dem nicht entgegenstellen: „Deutschland hat im bisherigen Verlauf der Krise Positionen des Widerstands nie auf Dauer gehalten.“

Neu in der deutschen Diskussion ist sein Ansatz, die europäischen Entwicklungen nach positiven und negativen Posten zu bilanzieren. Kielmansegg macht dies ganz bewußt, denn er spricht sich gegen eine „Sakralisierung“ des europäischen Projektes aus, die dazu diene, ein „Konsenskartell der politischen Klasse“ zu schützen und sachliche Kritik „in die rechte Ecke hineinzudefinieren“. Der Politologe hält eine unveränderte Fortsetzung der gegenwärtigen Europapolitik für ein „unverantwortliches Hasardspiel“, das den Bestand der EU gefährden könnte.

Besondere Brisanz hat sein Beitrag über das Bundesverfassungsgericht und Europa. Hier verbindet sich aktuelle mit Grundsatzkritik. Konkret befürchtet er die schleichende und unerklärte Selbstabschaffung Deutschlands „zum bloßen Glied“ in einem europäischen Superstaat unter Umgehung des Souveräns und fragt, ob nicht die Mitgliedstaaten im stetig, in vielen kleinen Schritten vorwärtsdrängenden Integrationsprozeß ihre Selbstbestimmung längst verloren haben könnten, bevor etwa „ein Volksentscheid (...) nur noch im nachhinein bestätigen würde, was sich tatsächlich bereits vollzogen hat?“ Und er kommentiert, dies „könnte sogar eine Strategie sein“, um den Übergang „nicht ins Bewußtsein treten zu lassen“.

Kielmansegg kritisiert nicht nur das Verhältnis von Europäisierung und Demokratieerhalt. Im Zentrum steht die Befürchtung, daß gerade glühende Europäer durch überzogene Maßnahmen das europäische Projekt gefährden, weil sie die Bodenhaftung verloren hätten. Seine unmißverständlichen Urteile wirken hart. Trotz der von ihm dargestellten Mechanismen der politischen Sanktionierung solch unbequemer Kritik wiegt seine Sorge um Europa schwer. Davon zeugen seine langjährige wissenschaftliche und öffentliche Beobachtung genauso wie gegenwärtige Aufsätze. Völker bilden sich nach ganz eigenen Gesetzen zu Nationen; am Reißbrett geht das nicht. Dies ist der entscheidende Grund, warum das im Westen so beliebte nation building von außen noch nie funktioniert hat. Man muß deshalb kein Prophet sein, um zu erkennen, daß auch die Brüsseler Hoffnung, aus der EU einen funktionierenden und demokratischen Staat machen zu können, scheitern dürfte. Graf Kielmans-egg hat dies in bemerkenswerter Weise eindringlich dargestellt. 

Peter Graf Kielmansegg: Wohin des Wegs, Europa? Beiträge zu einer überfälligen Debatte. Nomos-Verlag, Baden-Baden 2015, broschiert, 163 Seiten, 29 Euro