© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/16 / 13. Mai 2016

Liebe statt Ideologie
Pfingsten: Ein Plädoyer für mehr Mut und weniger Politik in der Kirche
Jürgen Liminski

Eines muß man diesem Papst lassen: Mit dem Jahr der Barmherzigkeit hat er einen geistlichen Scoop gelandet. Nichts braucht die Welt dringender als Mitmenschlichkeit, Mitgefühl, tätiges Erbarmen, Liebe. 

Mehr als 150 Konflikte zählen die Friedensforscher, an den meisten und blutigsten sind Islamisten beteiligt. Allein das mag den Unterschied zwischen den Religionen erhellen. Aber selbst in Europa ist die Dividende der „Wende“ von Anfang der neunziger Jahre längst aufgebraucht. Die Asylkrise reißt alte Gegensätze auf, Identitäten werden in Frage gestellt. Angst vor Wohlstandsverlusten geht um, auch die Wunden der Finanzkrise sind noch nicht vernarbt. Die Mittelschicht schmilzt, Verteilungskämpfe stehen ins Haus. Für all das braucht es eine Menge Solidarität, aber auch Gerechtigkeitssinn. Denn die neu aufkommende Griechenlandkrise und das lange noch nicht gelöste Flüchtlings- und Immigrationsproblem sind mit Barmherzigkeit allein nicht zu meistern. Europa, die Welt braucht beides: Gerechtigkeit und Barmherzigkeit.

Mit dem Appell an mehr Humanität in Europa, die der Papst bei der Verleihung des Karlspreises von den Europäern zum wiederholten Mal einforderte, bewegt sich Franziskus ganz auf der Linie seiner Vorgänger. Benedikt XVI. schrieb eine Enzyklika in diesem Sinn – „Deus caritas est“ –, Johannes Paul II. hinterließ als Vermächtnis seines Pontifikats den Appell zur Versöhnung – Frucht der Barmherzigkeit – und Paul VI. rief dazu auf, eine „Zivilisation der Liebe“ zu errichten. Natürlich hat jeder auf seine Weise recht, und dennoch klingen die Mahnungen und Erklärungen irgendwie hohl. Das liegt weniger an den Päpsten als an den Zuständen in den Kirchen und in der Politik. 

Es fängt an im Vatikan. Selten war die Stimmung hinter den dicken Mauern so geprägt von Unsicherheit. Dieser Papst ist unberechenbar, niemand weiß, wer wirklich Einfluß auf ihn hat. Die deutschen Kardinäle sicher am wenigsten. Papst Franziskus ist spontan und ein Mann pastoraler Praxis. Er kennt das Leben, und sei es aus unzähligen Beichtgesprächen. Das hat er den meisten Kardinälen voraus. Die denken, gerade in Deutschland, in politischen Kategorien, und das sind Kategorien der Macht, manchmal sogar der Kumpelei mit Politikern. Franziskus aber will keine politische Kirche, er will eine barmherzige. Das ist es, was letztlich im Angesicht der Ewigkeit zählt. 

Nun haben die Kirchen eine durchaus zeitliche Komponente, der Geist der Liebe ist kein freischwebendes Gefühl. Er muß in Einklang mit der Gerechtigkeit gebracht werden, auch und gerade in Demokratien. Der Appell zum Teilen richtet sich an den einzelnen, Politiker aber müssen das Gemeinwohl im Auge haben. Deshalb lebt die Demokratie zwar von Werten, von ethischen Orientierungsmaßstäben, aber sie kann sie nicht per ordre du mufti verfügen. Ernst-Wolfgang Böckenförde hat mit seinem berühmten Diktum darauf hingewiesen. Die Erkenntnis von der Bedeutung persönlich gelebter und geschaffener, aber für die Allgemeinheit unverzichtbarer Werte ist de facto ein Plädoyer für eine Einhegung der Gleichheit. 

Schon Montesquieu, Ahnherr der Gewaltenteilung, wies im Buch 8 seines Werks „Vom Geist der Gesetze“ darauf hin: „Das Prinzip der Demokratie wird nicht nur korrumpiert, wenn man den Geist der Gleichheit verliert, sondern auch, wenn man einen extremen Geist der Gleichheit übernimmt.“ Wie soll nun der Geist der Nächstenliebe im politischen Raum Gestalt gewinnen? Franziskus’ Vorgänger Benedikt gab dazu eine Art Gebrauchsanweisung: „Gerechtigkeit ist Ziel und inneres Maß aller Politik“, schrieb er, aber Gerechtigkeit allein reiche nicht. „Zu einer besseren Welt trägt man nur bei, indem man selbst jetzt das Gute tut ... Das Programm des Christen ist das sehende Herz. Dieses Herz sieht, wo Liebe not tut und handelt danach.“ Überläßt man die Solidarität nur dem Staat führt das in den sozialistischen Versorgungsstaat, der „letztlich zu einer bürokratischen Instanz (wird), die das Wesentliche nicht geben kann, das der leidende Mensch, jeder Mensch, braucht: die liebevolle, persönliche Zuwendung.“ 

Liebe von Person zu Person, Zuwendung nicht amtlich oder politisch oktroyiert – das ist der Kern der Botschaft der Barmherzigkeit, und das ist auch die Kernkompetenz des christlichen Glaubens, das Wahrzeichen der Christen. „Seht, wie sie einander lieben“, hieß es in den ersten Jahrhunderten. Sie halfen Sklaven, sie trieben nicht ab, sie entwickelten Gemeinsinn. Natürlich gab es im Lauf der Geschichte und gibt es auch heute gute und schlechte Christen, aber das Maß war immer das gleiche: die Liebe. Sie ist nach einem Wort von Thomas von Aquin das „Urgeschenk“, der Geist, der diesen Glauben beseelt. Das ist übrigens der Geist, der den wesentlichen Unterschied zum Islam, der Religion der Unterwerfung, ausmacht. 

Den Glauben an die Liebe wachzuhalten hat Wirkung für die Gesellschaft. Die Kirchen haben durchaus die Aufgabe, den moralischen Grundwasserspiegel der Menschheit zu halten und nicht nur zu Pfingsten darauf hinzuweisen, daß es eine Wahrheit jenseits von Mainstream und Mehrheiten gibt, etwa bei den Themen Abtreibung, Gender und Frühsexualisierung oder Familie. Aus der Familie erwächst der Friede für die Menschheit, meinte etwa Johannes Paul II. 

Da sind klare Worte nicht nur von Päpsten gefragt. In diesem Sinn wäre den Kirchen in Deutschland durchaus mehr Geist, ja mehr Mut zu wünschen.