© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/16 / 13. Mai 2016

Auftrag zur Selbstabschaffung
Das Böse und der Staatsmythos: Die Historisierung des Nationalsozialismus wird von den Hütern der Zivilreligion blockiert
Thorsten Hinz

Kurz vor dem 8. Mai  forderte die Bundestagsfraktion der Linkspartei in einem Antrag die Bundesregierung auf, den 8. Mai „als Tag der Befreiung“ zum gesetzlichen Gedenktag zu erheben. In der Begründung verwies sie darauf, daß der „8. Mai 1945 für Millionen Menschen ein Tag der Hoffnung und Zuversicht“ gewesen sei. Jedoch werde seine Bedeutung nicht allgemein anerkannt. Die Unterschiedlichkeit der Bewertung biete die Chance, „einen lebendigen Gedenktag zu etablieren, der sich nicht in Symbolen und Ritualen erschöpft, sondern zu streitbaren öffentlichen Diskussionen Anlaß gibt“.

Man kennt die Linke und weiß, daß es ihr um Bevormundung, Indoktrination und die Aufhebung des Meinungspluralismus geht. Sie sieht eine reelle Chance, ein SED-Dogma gesamtdeutsch zu etablieren und als dessen Hüterin weiteres Terrain zu gewinnen. Weil eine grundsätzliche, politisch und historiographisch fundierte Ablehnung im bundesdeutschen Diskursrahmen nicht mehr möglich ist, sind die Erfolgsaussichten dafür mittelfristig gut. Es sei denn, der Rahmen wird endlich aufgesprengt!

In der DDR war der 8. Mai ganz offiziell ein „Tag der Befreiung“, wobei als Befreier exklusiv die Sowjetunion galt. Die Befreiungsthese war innerhalb der herrschenden Ideologie völlig schlüssig: Der Zweite Weltkrieg wurde in der DDR weniger als Staaten-, sondern als internationaler Bürgerkrieg zwischen dem Lager des Fortschritts – hauptsächlich verkörpert durch die Sowjetunion – und der Reaktion interpretiert, deren Sturmspitze das „faschistische“ Deutschland bildete. Der anglo-amerikanische Schulterschluß mit der Sowjetunion wurde mit taktischen Unstimmigkeiten im Lager der Reaktion erklärt, die aus der besonderen Aggressivität des deutschen Imperialismus folgten. Mit der Integration der BRD in die Nato war die korrekte strategische Schlachtordnung wiederhergestellt.

Befreit fühlen durften sich unterdessen die Werktätigen in der DDR, die das „faschistische“ Regime gezwungen hatte, im Krieg gleichsam an der falschen Front zu wirken. 1945 erlösten die sowjetischen Klassenbrüder sie von Ausbeutung, Unterdrückung und von dem Zwang, gegen die eigenen Interessen kämpfen zu müssen. Die Tatsache, daß die sozialistische Befreiungsideologie ein Vehikel des alten, westwärts gerichteten russischen Imperialismus war, stellte ein strafwürdiges Tabu dar. Um so brutaler wurde die SED-Führung 1989 von ihr eingeholt, als die sowjetische Führung zu dem Schluß kam, ihr Imperium überdehnt zu haben, und ihren Satelliten für ein – nach heutigen Maßstäben – Butterbrot dem westdeutschen Klassenfeind überließ.

Das absolut Böse soll sich jeder Erklärung entziehen

Die Linkspartei argumentiert nicht mehr mit einer pragmatischen Geschichtsphilosophie, sondern nennt den 8. Mai einen „Tag der Hoffnung und Zuversicht“, was eher eine theologische als eine politische Beschreibung ist. Darin klingen die theologischen Tugenden Glaube, Liebe, Hoffnung an, wobei der „Glaube“ durch „Zuversicht“ ersetzt und die „Liebe“ durch den impliziten Anspruch repräsentiert wird, im Namen des Guten das Böse zu exorzieren, das unter den Namen „singuläre“ beziehungsweise „deutsche Verbrechen“, „deutsche Schuld“ und „Zivilisationsbruch“ bekannt ist und demagogisch, doch effektiv zur „deutschen Vergangenheit“ addiert wird. Die Partei zitiert den bekannten zivilreligiösen Zusammenhang, innerhalb dessen sie den 8. Mai zum epiphanischen Ereignis – einer höheren Erscheinung – erhebt.

Die Zivilreligion ist ein Erzeugnis der westlichen Ideologieproduktion. Vorarbeit für den Vorstoß der Linken hat auch das Bundesverfassungsgericht geleistet, indem es die Bundesrepublik als antifaschistischen Gegenentwurf zum Dritten Reich definierte. Damit hat es formaljuristisch nachvollzogen, was sich in Politik und Gesellschaft unter der Hand als Staatsideologie etabliert hat. Die Linkspartei hat die Gunst der Konstellation früh genutzt und sich als legitime, weil antifaschistische Kraft dem Diskurs angeschlossen. Längst prägt sie ihn kraftvoll mit. Auf dem Umweg der Geschichtspolitik wird so auch die SED-Vergangenheit rehabilitiert und integriert, die gleichfalls antifaschistisch begründet war. Damit fließt in die geistig-moralische Ausstattung des vereinten Deutschland zunehmend das ideologische SED-Erbe ein.

Die Historisierung des NS-Regimes wird von den Hütern der Zivilreligion blockiert, die seine Einbettung in den internationalen Kontext jener Zeit als „Relativierung“ des Bösen verdammen und mit sozialer Ächtung sanktionieren. Die drohend-suggestive Wirkung der Begriffe, mit denen sie hantieren, steht im proportionalen Verhältnis zu ihrer Unschärfe. Stets geht es darum, dem Bösen des Nationalsozialismus eine Qualität zuzuschreiben, die sich jeder nach menschlichen Maßstäben möglichen Erklärung entzieht. In diesem Diskursmuster läuft jeder historische Erklärungsversuch auf eine Verharmlosung und Leugnung hinaus.

Die Vorlage für das scholastische und inquisitorische Verfahren hat ausgerechnet die Meisterdenkerin Hannah Arendt geliefert, als sie im Klassiker „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ die Untaten des Dritten Reiches als Beweis anführte, „daß es ein radikal Böses wirklich gibt (...), das man weder verstehen noch erklären kann durch die bösen Motive von Eigennutz, Habgier, Neid, Machtgier, Ressentiment, Feigheit“ usw.

Der Begriff „radikal Böses“ stammt von Immanuel Kant, den Arendt bei der Gelegenheit zu korrigieren versuchte. Denn Kant hatte gemeint, er sei auf die menschliche Sphäre nicht anwendbar, weil es teuflisch, nicht menschlich sei, das Böse nur um des Bösen willen zu tun. Arendt kannte bei der Abfassung ihres Werks noch nicht die Sachzusammenhänge, die auch den bösartigsten Verbrechen der Nationalsozialisten eine perfide Zweckhaltigkeit politischer, ökonomischer, militärischer oder anderer Art verlieh.

Veit Harlan schilderte Hitlers Suggestionskraft

Der Begriff sorgt zudem für Mißverständnisse, weil „radikal“ im politischen Sprachgebrauch nur das Zweitschlimmste bezeichnet und von „extrem“ überboten wird. Die Kombination „extrem böse“ jedoch assoziiert nur eine äußerste Steigerung negativer Quantitäten und ist ungeeignet, um eine bereits im Ursprung vorhandene, ausschließliche und alles Handeln transzendierende Qualität des Bösen zu bezeichnen, dessen Zweck mit seiner Existenz und seinem Selbstgenuß zusammenfällt. Als Alternative eignet sich am besten der Begriff des „absolut Bösen“.

Auch Rüdiger Safranski hat im Buch „Das Böse oder das Drama der Freiheit“ (1997) das „radikal Böse“ im Arendtschen Sinne verwandt und das unter anderem mit der Dämonie Hitlers begründet, wobei er auf Goethe zurückgreift, der in „Dichtung und Wahrheit“ kurz das „Dämonische“ abhandelt. Es gehe von Personen aus, die „eine unglaubliche Gewalt über alle Geschöpfe, ja sogar über die Elemente“ ausüben. Was Goethe beschreibt, ist das schwer zu erklärende Charisma, die irrationale Wirkung ausgewählter Menschen auf ihre Umgebung.

Eine ausgezeichnete Schilderung von Hitlers Dämonie respektive Charisma ist in den Memoiren des Filmregisseurs Veit Harlan überliefert, der 1937 anläßlich einer Einladung in die Reichskanzlei dessen „bezwingende“, „beängstigende“, „monströse Suggestionskraft“ erlebte, die wie ein „permanenter elektrischer Strom“ wirkte. Hitler sei sich ihrer voll bewußt gewesen und habe sie gezielt eingesetzt. Ein dämonisches Charisma aber, das begründbaren menschlichen Zwecken dient, ist kein diabolisches und kein absolut Böses.

„Radikal böse“ sind die NS-Verbrechen aber im umgangssprachlichen Sinne, weil ihr Umfang und die Verletzung moralischer Gesetze von außerordentlicher Intensität und Perfidie waren. Doch selbst der Holocaust ist „nicht unverstehbar, denn er hat leicht erkennbare Prämissen, und er war kein der Geschichte enthobenes Werk des ‘absoluten Bösen’“ (Ernst Nolte).

So muß auch die Befreiung „von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“ (Richard von Weizsäcker) innerhalb größerer politisch-historischer Zusammenhänge begriffen werden, die allerdings aus deutscher Sicht eine Verabsolutierung und die Erhebung des 8. Mai zum offiziellen „Tag der Befreiung“ verbieten. Befürworter wie die Linkspartei hingegen mystifizieren das Datum als ein absolutes und epiphanisches, das den Sieg des Guten über das absolut Böse markiere.

Diese Mystifikation ist zum Staatsmythos geworden, von dem eine zerstörerische Dynamik ausgeht: Da das absolut Böse seinen Träger – den Teufel beziehungsweise die Deutschen – logischerweise absolut beziehungsweise total erfüllt, kann seine Fortzeugung nur unterbrochen werden, indem die Besessenen aus der Geschichte verschwinden. So leitet sich aus der epiphanisch verstandenen „Befreiung“ ein permanenter Auftrag zur nationalen Selbstabschaffung ab. Weil auch dieser Irrsinn leicht erkennbare Voraussetzungen hat, ist das Böse, das aus ihm folgt, lediglich ein – im umgangssprachlichen Sinne – radikal Böses und der fällige Widerstand dagegen nicht absolut aussichtslos.