© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/16 / 13. Mai 2016

Die Misere nimmt ungehindert ihren Lauf
Arsen im Grundwasser bedroht Leib und Leben von 140 Millionen Indern / Ökologische Probleme schlimmer als in China?
Dieter Menke

Anders als China mit seiner notorischen Luftverschmutzung, erregt Indien seltener die Aufmerksamkeit westlicher Medien. Nur periodisch auftretende Suizidwellen unter den Bauern des Subkontinents, mittelbar exzessivem Einsatz von Pestiziden geschuldet, schaffen hierzulande manchmal den Sprung über die Wahrnehmungsschwelle.

Dabei sind die durch Bevölkerungswachstum und Industrialisierung verursachten ökologischen Probleme Indiens nicht weniger gewaltig als die im Reich der Mitte. Und aufgrund eines „natürliches Erbes“ dürften sie sogar erheblich schwerer zu bewältigen sein, wie ein Bericht der in Neu-Delhi stationierten Südasienkorrespondentin Katy Daigle befürchten läßt. Denn das nördliche Indien, wo sich an Ganges, Brahmaputra und Meghna 500 Millionen Menschen auf 700.000 Quadratkilometern drängen, zählt erdgeschichtlich bedingt zu den Weltgegenden mit den höchsten Arsenkonzentrationen im Boden.

Arsen im Reis, in der Milch und im Mineralwasser

Unter den dortigen Wasser- und Bodenbedingungen – forciert durch rasante Zunahme von Konsumenten, die immer mehr Wasser aus dem Boden pumpen – löst sich das Halbmetall aus dem Mineralverband und verseucht das Grundwasser. Ab einer Konzentration von zehn Mikrogramm pro Liter genossen, führen Arsenvergiftungen schnell zu organischen Schädigungen von Gehirn und Herz und verursachen Krebs. Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zufolge trinken in ganz Asien derzeit 140 Millionen Menschen arsenverseuchtes Wasser.

Da Indien, abgesehen von einigen Großstädten, mit seinen bald 1,3 Milliarden Einwohnern nicht über eine Infrastruktur zum Speichern, Verteilen oder Reinigen von Wasser verfügt, müssen 80 Prozent der Landbewohner und 50 Prozent der Städter aus Rohrbrunnen gefördertes Grundwasser zum Trinken und Kochen verwenden. Aber die meisten Rohrbrunnen reichen nur in Tiefen bis zu 200 Metern, wo man zwar auf die erste Schicht mit keimfreiem Wasser trifft, aber auch exakt die Tiefe mit dem höchsten Arsengehalt erreicht. Um das Wasser aus Indiens 18 Millionen primitiven Rohrbrunnen auf die, entgegen der WHO-Vorgabe, gesetzlich erlaubten 50 Mikrogramm Arsen zu testen, reichen die finanziellen und personellen Kräfte des Staates nicht einmal ansatzweise aus.

Die Misere nehme, wie Daigle prognostiziert, folglich ihren Lauf und spitze sich zu, da die Verseuchung von Indiens Grundwasser mit dem Tempo der Bevölkerungszunahme und der Ausweitung der Nahrungsmittelproduktion voranschreite. Heute finde sich Arsen daher bereits im Reis, in der Milch und selbst im abgefüllten Mineralwasser.

„Spektrum der Wissenschaft“, 4/16:  spektrum.de