© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/16 / 13. Mai 2016

Der Flaneur
Briefwechsel mit Nicole
Paul Leonhard

Seit kurzem schreibe ich ihr wieder. Nicole dürfte meine längste Brieffreundschaft sein. Aber was heißt Freundschaft, voller Hochachtung verkehren wir seit einer gefühlten Ewigkeit miteinander. Bestimmt zehn Jahre, seitdem sich die Bahn verpflichtet fühlt, pünktlich zu sein. Von diesen Bahnfahrten schreibe ich dann Nicole. Nicht immer, aber häufig genug. Und ich bitte sie, nun ja, um Geld.

Schadenersatz will ich haben! Meine Fahrgastrechte fordere ich ein! Weil ich wieder mal in Hannover einen Anschluß verpaßt habe oder der Nachtzug in Frankfurt-Süd mehr als eine Stunde Verspätung hatte und der Schaffner es nicht einmal für nötig hielt, die Fahrgäste zu informieren, weswegen die mit ihrem Gepäck in Fulda aus- und dann fluchend schnell wieder einsteigen mußten. Von der Aktion kenne ich übrigens Marie. Wir simsen seitdem ab und zu.

Zähneknirschend teilte sie mir mit, sich entschuldigen zu müssen. Ein Scheck lag bei.

Mit Nicole ist das anders. Wir schreiben uns in einer altertümlich-vornehmen Sprache, verbleiben hochachtungsvoll. Unlängst habe ich es allerdings übertrieben. Habe gegen die Spielregeln verstoßen und mich an ihren Chef gewandt. Ich habe dem Vorstands­chef der Deutschen Bahn mein Leid mit Nicole geschildert, daß diese ihre Arbeit einfach ein wenig zu genau nehme und nie bereit sei, Fehler einzuräumen und Geld zu zahlen. Ich erinnerte ihn an seine eigenen Versprechungen und bekam dann prompt einen Brief. Nicht von ihm, nicht von Nicole, sondern von einem mir bisher unbekannten Herren. Drei Verzehrcoupons lagen bei und die Zusage, meinen Vorgang zu prüfen.

Auch von Nicole kam eine Woche später ein Schreiben. Zähneknirschend teilte sie mir mit, sich entschuldigen zu müssen. Ich sei versehentlich falsch behandelt worden. Ein Scheck lag bei. Danach herrschte Funkstille zwischen uns. Aber Anfang des Jahres konnte ich Nicole wieder schreiben. Erneut wegen des Nachtzuges. Und prompt schrieb sie mir zurück, daß sie mir gern helfen wolle. Und dann zählte sie Belege auf, die sie noch benötige. Hochachtungsvoll, meine Nicole vom Servicecenter Fahrgastrechte.