© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/16 / 20. Mai 2016

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Die Kunst, mit Würde zu verlieren
Marcus Schmidt

Eine Kanzlerkandidatur ist eine gefährliche Sache. Jedenfalls für SPD-Politiker. Angesichts von Umfragewerten knapp über oder gar unter der 20-Prozent-Marke ist die Bezeichnung „hoffnungslos“ für dieses Unternehmen noch ein Euphemismus.

SPD-Chef Sigmar Gabriel, der von großen Teilen seiner Partei und der Öffentlichkeit als natürlicher Kanzlerkandidat angesehen wird, versucht denn auch seit Wochen der Frage aus dem Weg zu gehen. „Das entscheidet die SPD, wenn es soweit ist“, lautet seine Standardantwort, mit der er vor allem hofft, Zeit zu gewinnen. Zeit, die er versucht zu nutzen, das Bewerberfeld zu vergrößern. Denn Gabriel, der den nahen Untergang vor Augen hat, möchte nicht allein sterben. „Es wäre hervorragend, wenn es im nächsten Jahr zwei oder drei Leute aus der Führungsspitze der SPD gäbe, die sagen: Ich traue mir das zu“, sagte er jetzt im Spiegel mit Blick auf die im kommenden Jahr geplante Nominierung eines SPD-Kanzlerkandidaten.

Das Problem: Niemand anders in der Partei scheint gewillt, bei der nächsten Bundestagswahl den Kopf für die Sozialdemokraten hinzuhalten. Ernsthaft in Frage kommen neben Gabriel überhaupt nur drei oder vier andere Sozialdemokraten. In vorderster Front: Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz und der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz. Die Strategen im Berliner Willy-Brandt-Haus sehen in beiden Politikern geborene Kanzlerkandidaten und die letzte Möglichkeit, ihrem Parteichef das politische Überleben über den Wahltag hinaus zu sichern. 

Doch die Reaktionen auf Gabriels Vorstoß waren eindeutig. „Die SPD ist eine solidarische Partei, und in der SPD-Spitze halten wir zusammen. Wir machen uns nicht gegenseitig die Posten streitig“, entgegnete Scholz unter Verzicht auf die für ihn sonst eigentlich typische hanseatische Zurückhaltung. „Der SPD-Vorsitzende ist der natürliche Kanzlerkandidat“, sagte Scholz den Zeitungen des Redaktions-Netzwerks Deutschland. EU-Parlamentspräsident Schulz tat dagegen im fernen Brüssel so, als habe er Gabriels Vorschlag gar nicht gehört und schwieg ebenso wie Arbeitsministerin Andrea Nahles, die auch zum engeren Kreis der Kandidaten-Kandidaten gerechnet wird. Sowohl Scholz als auch Schulz und Nahles können sich eine Kandidatur zwar durchaus vorstellen. Allerdings nicht im kommenden Jahr – sondern erst bei der Bundestagswahl 2021.

Angesichts des gescheiterten Versuchs Gabriels, die Kanzlerkandidatur quasi zu vergesellschaften, hoffen viele seiner Anhänger nun darauf, daß sich Frank-Walter Steinmeier, der 2009 Merkel unterlegen war, doch noch einmal zu einer Kandidatur breitschlagen läßt. Daß der Außenminister Kanzler „kann“, bezweifeln in Berlin nicht einmal die politischen Gegner. Doch etwas anderes ist aus Sicht der SPD-Strategen, die derzeit in Berlin für eine neuerliche Kandidatur Steinmeiers werben, noch wichtiger: Der frühere Kanzleramtsminister hat bereits unter Beweis gestellt, daß er mit Würde verlieren kann.