© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/16 / 20. Mai 2016

Anna wird’s richten
Wirtschaft: Mobile Roboter und autonome Systeme drängen in die Fertigung / Deutschland muß sich auf einem prosperierenden Markt behaupten
Marc Zoellner

Es gibt scheinbar nichts, was Anna nicht kann: Zielsicher balanciert sie aufklappbare Würfel zwischen ihren Fingern, bearbeitet Formen mit der einen, sortiert Metallteilchen mit der anderen Hand. Einen galanten Tablettschwung später staunen die Zuschauer über die fertigen Produkte aus Annas reichhaltigem Repertoire. Anna jedoch, die es gewohnt ist, den Blick stets auf ihre Arbeit gerichtet zu haben, lächelt nur stumm vor sich hin oder bestaunt, was sie erschafft, mit kindlich-naivem offenem Mund.

Anna ist der Stolz ihres Vaters. Fleiß zeichnet sie aus, beinahe schon stoisches Durchhaltevermögen und Flexibilität. Ein freundliches Auftreten gepaart mit hoher Lern- und Auffassungsgabe. Ohne Schlaf zu benötigen kann Anna problemlos sieben Tage die Woche im Zweischichtensystem für den Lohn von gerade einmal acht Euro pro Stunde engagiert werden.

Programm „Industrie 4.0“ mit Leben erfüllen 

Auf den ersten Blick mag Anna wie Science-Fiction erscheinen. Doch Anna ist mehr: Sie gehört zu einer neuen Generation von Robotern und soll, ginge es nach dem Willen ihrer Schöpfer, die Fertigungsindustrie der Exportnation Deutschland maßgeblich revolutionieren. „Unser aufgaben- und ortsflexibler humanoider Roboter workerbot3“, wie Anna mit eigentlichem Namen heißt, „ist die Antwort auf die neuen Anforderungen an eine immer anspruchsvollere Fertigung und damit bereits heute gelebte Industrie-4.0-Philosophie“, schreibt Matthias Krinke, Gründer und Geschäftsführer der pi4_robotics GmbH. Die Firma ist mit rund 50 Mitarbeitern einer der führenden Hersteller von Bildverarbeitungssystemen, Prüfautomaten und Robotern mit Sitz in Berlin.

Einen ersten Erfolg konnte Krinke mit seinem humanoiden Roboter bereits verbuchen: Auf der diesjährigen Hannover Messe belegte Anna beim Robotics Award 2016 den zweiten Platz. Es siegte WHN Technologies GmbH aus Grabenstätt am Chiemsee mit ihrer X-Arm-Roboterhand. Der Ort der Preisverleihung ist dabei nicht zufällig gewählt. Denn im Prozeß der Optimierung einer immer komplexeren Arbeitswelt spielt die niedersächsische Landeshauptstadt eine historische Rolle von weltweiter Bedeutung.

„Wie können wir durch Nutzung von IT noch schneller, noch besser, noch flexibler, also individueller produzieren?“, stieß Philipp Rösler (FDP), der damalige Bundesminister für Wirtschaft und Technologie, hier vor genau fünf Jahren die Diskussion um das neue Schlagwort der „Industrie 4.0“ an. Denn die vierte industrielle Revolution, so Rösler zur Eröffnung der Hannover Messe 2011, stelle das möglicherweise wichtigste Thema für die deutsche Wirtschaft dar, um den Produktionsstandort Deutschland im verschärften internationalen Wettbewerb als zukunftsfähig zu behaupten.

Monatelang hatte eine Arbeitsgruppe der „Forschungsunion Wirtschaft-Wissenschaft“, bestehend aus 28 hochrangigen Wissenschaftlern und Wirtschaftsfunktionären, zu dieser Problemstellung geforscht. Konzerne wie Siemens, Daimler, die Deutsche Bahn und die Deutsche Post AG waren in die Arbeit der Forschungsunion ebenso involviert wie die EADS, die Nationale Akademie der Wissenschaften oder auch das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung.

Unter der Leitung des promovierten Betriebswirtschaftlers Arend Oetker stand mit „Industrie 4.0“ Ende Januar 2011 schließlich nicht nur der Name des Projekts fest. Zugleich wurde der Bundesregierung auch eine komplette Handlungsanweisung überreicht – eben jene, welche Rösler drei Monate später, im April 2011, in Hannover der Weltöffentlichkeit präsentierte.

Doch was hat man eigentlich unter dem Begriff der „Industrie 4.0“ zu verstehen? Drei industrielle Revolutionen durfte die Menschheit in ihrer technologischen Entwicklung bislang verzeichnen: angefangen von der Ablösung einer umständlichen Handarbeit einzeln agierender Arbeiter durch Dampfmaschinen und mechanische Webstühle Ende des 18. Jahrhunderts (der sogenannten ersten industriellen Revolution) über das Aufkommen komplett elektrizifierter Werke mitsamt der Möglichkeit von Massenproduktion an Fließbändern seit dem beginnenden 20. Jahrhundert (der zweiten industriellen Revolution) bis hin zum Einsatz von Industrierobotern zur autonomen Fabrikation von Bedarfs- und Gebrauchsgütern in den 1970er Jahren (der dritten industriellen Revolution).

Im Gegensatz zu ihren historischen Vorläufern, welche lediglich darauf ausgerichtet waren, den jeweiligen Produktionszyklus zu verbessern, ist die Industrie 4.0 jedoch tatsächlich ein Paradigmenwechsel innerhalb dieser Zyklen. „Nach Mechanisierung, Elektrifizierung und Informatisierung der Industrie läutet der Einzug des Internets der Dinge und Dienste in die Fabrik eine 4. Industrielle Revolution ein“, beschreibt die Forschungsunion Wirtschaft-Wissenschaft ihre Idee in einer 2013 erschienenen Broschüre. „Unternehmen werden zukünftig ihre Maschinen, Lagersysteme und Betriebsmittel als Cyber-Physical Systems (CPS) weltweit vernetzen.“

Arbeitsplätze nach Deutschland zurückholen 

Cloud Computing und M2M – die Kommunikation von Maschine zu Maschine – soll dabei die Funktion tragender Elemente innerhalb des postmodernen Produktionsnetzwerkes zugesprochen werden. Schlicht ausgedrückt bedeutet die Verknüpfung dieser beiden Prozesse, daß Maschinen nicht mehr nur ihre intern gespeicherten Programme abrufen und ausführen, sondern sich über drahtlose wie glasfasergestützte Datenautobahnen miteinander verbinden, ihre Produktionsabläufe eigenständig konfigurieren und von der Bestellung bis zur Lieferung autark die Wünsche ihrer Kunden bedienen.

Das Cloud Computing soll dabei ermöglichen, daß der jeweilige Herstellungsroboter seine Updates oder gar völlig neue Programme aus einer Datenbibliothek herunterladen kann, um Bedarfselemente individuell fertigen sowie den Vorgaben des Konsumenten entsprechend anpassen zu können. 

Die Vorteile liegen dabei auf der Hand: Der Hersteller würde nicht mehr für jede Form und jede Farbe einen anderen Roboter am Fließband benötigen. Umständliche Reprogrammierungs- und Kontrollschritte würden beinahe komplett entfallen. Und im Endeffekt, so die Grundidee der Forschungsunion, würde das Produkt und nicht mehr die Maschine die Produktion anleiten.

Einen bedeutenden Impuls steuert hierzu der schrittweise Übergang von den alten IPv4-Protokollen zu jenen der IPv6-Generation innerhalb des digitalen Kommunikationswesens bei. Bislang waren bestehende IP-Nummern beispielsweise bei der Adressvergabe im Internet auf rund vier Milliarden Möglichkeiten begrenzt. Mit der Einführung des IPv6-Protokolls werden jedoch weitere 340 Sextillionen Adressen frei – das ist eine 340 mit 36 Nullen. 

Jedes Produkt, von der Flüssigseifenflasche über den Turnschuh bis hin zum beauftragten Automobil, könnte somit eine eigene IP zugewiesen bekommen und sich darüber dem fertigenden Roboter, seinen eigenen Bestandteilen, dem Zulieferer dieser Bestandteile und selbst dem Logistiker zur Auslieferung an den Endverbraucher mitteilen.

Die dabei eingesparten humanen wie energetischen Ressourcen, welche Experten auf rund 30 Prozent beziffern, kämen dem Konsumenten nicht nur preislich zugute. Ebenso ermöglicht das Konzept der Industrie 4.0 „eine kostengünstige Produktion in Europa“, erklärt Matthias Krinke auf seiner Seite, „und sichert damit den Produktionsstandort oder kann sogar die Produktion aus fernen Ländern wieder zurückholen“.

Schüler sind nicht auf das digitale Zeitalter vorbereitet

Eine Meinung, die vielerorts gern geteilt wird. Die vierte industrielle Revolution biete mit der Digitalisierung der Herstellung sowie dem direkten Eingriff des Kunden in den Produktionsprozeß „die Chance, daß hochautomatisierte Fertigung wieder zurück nach Deutschland kommt“, zeigte sich kürzlich auch Till Reuter, Vorstandsvorsitzender des Industrieroboterherstellers Kuka AG, im Interview mit dem Handelsblatt optimistisch.

Mit der Verlagerung insbesondere der Massenproduktion aus Billiglohnländern wie China und Malaysia zurück nach Deutschland könnten auch den Arbeitern der heimischen Wirtschaft neue Perspektiven und neue Betätigungsfelder erschlossen werden, ist man sich im Dialog zwischen Robotikherstellern und Bundesregierung sicher. 

Doch etliche Hürden gilt es hierbei noch zu überwinden. Insbesondere Fragen der Netzsicherheit im Datenverkehr, Fragen der Industriespionage oder unbefugte Eingriffe in die Cloud der Fabriken schrecken noch gut die Hälfte der deutschen Unternehmen vor einem Umbau ihrer Produktionsstrukturen ab, wie eine diesen April veröffentlichte Studie des in Frankfurt/Main ansässigen Wirtschaftsprüfers PricewaterhouseCoopers (PwC) ergab.

Rund 500 Manager aus dem deutschen Industriespektrum hatte PwC zwischen November 2015 und Januar 2016 zu Chancen und Risiken des „Industrie 4.0“-Konzepts befragt; ebenso wie zu den laufenden und gepanten Investitionen zur Umrüstung ihrer Unternehmen. Eruiert wurde dabei ein beachtliches Zahlenmaterial: Allein ein Drittel aller Befragten gab an, seine Produktionsabläufe bereits ganz oder zumindest schon teilweise digitalisiert zu haben. Bis 2020 wollen sich sogar 82 Prozent der deutschen Fertigungsunternehmen an der Umrüstung auf „Industrie 4.0“-Standards beteiligen. 

Etwa 4,6 Prozent ihrer Umsätze, also rund 31 Milliarden Euro jährlich, plant die deutsche Industrie für diese Modernisierung zu investieren. Die Summe der weltweiten Investitionen, konstatierte PwC in selbiger Studie, käme sogar auf ein Jahresbudget von 907 Milliarden US-Dollar – umgerechnet rund 805 Milliarden Euro.

Doch im internationalen Ringen um die besten Standorte für industrielle Fertigung, Prozeßoptimierung und Bedarfsorientiertheit hat gerade Deutschland als Ursprungsland der „Industrie 4.0“-Philosophie noch gewaltige Kraftanstrengungen zu leisten, um nicht ins Hintertreffen zu geraten. Nicht nur, was den Slogan der „German Angst“ betrifft. „Amerika läuft weiter voraus“, warnte Franz Eduard Gruber, Chef der Produktionssoftwareschmiede Forcam, zur Eröffnung der Hannover Messe. „Die USA haben keinen technologischen Vorsprung, sondern einen mentalen. Es ist ein Vorsprung durch Tatkraft. Die US-Gesellschaft ist viel IT-affiner, die Integration von innovativen IT-Lösungen liegt sozusagen in der US-Seele begründet.“

Die vierte industrielle Revolution, pflichtet auch Ralph Appel bei, müsse von einem praxisnahen Umdenken im deutschen Bildungswesen begleitet werden. „Die Vermittlung von Digitalkompetenz muß spätestens in der Schule beginnen“, mahnte der Direktor des Vereins Deutscher Ingenieure zum Messeauftakt. „Leider ist unser Bildungssystem zur Zeit nicht in der Lage, Schülerinnen und Schüler auf das digitale Zeitalter vorzubereiten. Ein internationaler Vergleich zeigt: In keiner anderen Industrienation nutzen Lehrpersonen seltener neue Technologien im Unterricht als in Deutschland.“ 

Denn so flexibel und lernfähig humanoide Roboter wie Anna auch sein mögen, ganz ohne menschliche Anleitung werden sie auch im kommenden Zeitalter nicht auskommen. Doch dazu bedarf es, gerade im Wirtschaftsstandort Deutschland, der intensiven Förderung heimischer Fachkräfte durch Schulen und Universitäten.





World Robot Olympiad

Die World Robot Olympiad ist ein internationaler Roboterwettbewerb, der Jugendlichen den Zugang zu naturwissenschaftlichen Fächern erleichtern und sie für einen Ingenieurs- oder IT-Beruf motivieren soll. Laut WRO kombinieren die Wettbewerbe den „Nervenkitzel eines Sportevents mit der schulischen Herausforderung, einen Lego Mindstorms Roboter zu bauen, zu designen und zu programmieren“. In Deutschland existiert die WRO seit 2009. Waren es bei der Olympiade 2012 32 deutsche Teams, die an den nationalen Wettbewerben (Regular Category, Open Category, Football Category) teilnahmen, so stieg die Zahl in diesem Jahr auf 450. Unter dem Thema „Rap the Scrap – Roboter reduzieren, verwalten und recyceln Müll“ kämpfen die  Teams um den Einzug ins Deutschlandfinale (18./19. Juni, Ludwigshafen). Das Weltfinale findet dann Ende November in Neu-Delhi statt. 2015 in Doha (Katar) gewann das deutsche Team Schollibotics aus Lünen in der Open Category eine Bronzemedaille.