© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/16 / 20. Mai 2016

Dorn im Auge
Christian Dorn

Im Deutschlandfunk erklärt Sozialphilosoph Hans Joas den religiösen Glauben mit einer Definition des protestantischen Theologen Paul Tillich: „Das Ergriffen-Sein von dem, was uns unbedingt angeht.“ Der alte Mann aus dem christlichen Pflegeheim nebenan, der mit dem Rollator auf dem Gehweg allen vorbeikommenden Passanten „Gott segne Sie!“ entgegenruft, steht scheinbar auf verlorenem Posten – baute er nicht auf Gott. Das vorbeilaufende Mädchen derweil trägt Ohrstöpsel und wird die Botschaft von Jesus Christus nicht vernehmen. Das sich über ihren Busen spannende T-Shirt trägt keine frohe Botschaft: „Can’t touch this“.

„Und wie geht’s bei dir mit Jungs?“ – „Warte, ich lach’ kurz fertig.“ Die drei trinkenden und rauchenden jungen Frauen am Nachbartisch des Cafés demonstrieren, daß das wirkliche Leben das eigentliche Kino ist. „Bigger than life“ ist ja der Erfahrungsschatz, der hier verarbeitet wird, selbst wenn dieser nur imaginiert ist. So etwa beim Gespräch eines Paares einige Tische weiter. Er träumt, im Musikgeschäft groß rauszukommen: „Der Song ist schon mal da, aber entscheidend ist Netzwerk, Netzwerk, Netzwerk, und dann die Opportunities ...“ Darauf die Begleiterin: „Job ist ja ganz schön, ist aber natürlich nicht das Wichtigste.“ Darauf er: „Na, das ist eben die Frage der Arbeitsteilung.“

Denke an das berüchtigte Motto im dystopischen Roman „The Circle“ von Dave Eggers: „Teilen ist Heilen.“ Am Nachbartisch haben zwei junge Frauen Platz genommen, beide noch neu in Berlin. Auch hier komplette Dialogsätze eines ungedrehten Beziehungsdramas. Die eine: „Das Problem ist, der ist gar nicht so ein Arschloch ... Ich war echt bereit, dem alles zu geben, das passiert wirklich nur selten, ich habe sogar meinen Eltern davon erzählt.“ Um dann zu erkennen: „Aber es gibt echt Leute, die mußt du aus deinem Leben wieder rauslassen.“ Immerhin haben sie eine erste Lebensweisheit: „Es gibt ein paar Leute, die sind nur für eine kurze Zeit gut.“ Schließlich sei aber doch die Kirche schuld. „Ja klar, das ist so, wie wenn du sagst, Christ sein, da läuten bei mir alle Alarmglocken.“ Darauf die Angesprochene: „Ich bin aus der Kirche ausgetreten – aber aus voller Überzeugung!“ Worauf die andere sich beeilt: „Ich auch – mach ich aber erst später.“ Gepflegte Konversation geht wirklich über alles, das wissen die zwei, und schließen ihr Gespräch, die eine zur anderen, mit den Worten: „Also daß ich mit jemandem einfach so labere wie mit dir hier, das passiert mir so selten.“