© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 21/16 / 20. Mai 2016

Gute Lehren für Out-of-area-Einsätze
Eine Analyse der deutschen Eroberung Kretas vor 75 Jahren könnte auch für deutsche Auslandseinsätze der Gegenwart fruchtbar sein
Günter Roth

In einer „aus den Fugen geratenen Welt“ (Peter Scholl-Latour) und den damit einhergehenden Bedrohungen der Sicherheit und Freiheit der westlichen Staatenwelt stellt sich die Frage: Kann aus der bloßen Erinnerung an die legendäre Schlacht um Kreta, die zugunsten der Kühnheit und der Tapferkeit der deutschen Fallschirmtruppe, auch von den ehemaligen Gegnern stilisiert wurde, „für ein andermal gelernt werden“? 

Könnte die kritische Rezeption der Planung, Vorbereitung und Operationsführung in dem Kriegsbild der Gegenwart zur Schulung des operativen und taktischen Denkens der Führer der Bundeswahr und insbesondere des deutschen Heeres beitragen? Könnten der „Pyrrhussieg“, die Ambivalenz von Sieg und Tragödie, zu einer, wie Carl von Clausewitz sagt, „bewegenden Kraft, der aus der Praxis abgeleiteten Theorie“ transformiert werden, als „Kriterium des Denkens“ der militärischen Führer mit dem Ziel, für das „Kommende“ (Ludwig Dehio), den vorhersehbaren Herausforderungen gegenüber gewappnet zu sein, nicht wie in Afghanistan, Mali, Irak-Kurdistan und Syrien von den Ereignissen überrascht und überrollt zu werden? 

Soviel kann in diesem Zusammenhand nüchtern festgestellt werden: Die deutsche Militärgeschichte führte in der, frühzeitig aus den Lehrplänen der Führungsakademie und Offiziersschulen eliminierten „Erziehung“ das das Vorbild bedeutender deutscher Soldaten, ein Schatten- und ein Nischendasein. Als das bundesdeutsche Parlament die Bundeswehr nach Afghanistan entsandte, hatten die Vertreter des deutschen Volkes, wie auch die oberste Militärführung ahnungslos und „blauäugig“ (Peter Struck) gehandelt. Beide haben den Grundsatz Friedrichs des Großen nicht gekannt oder nicht beherzigt: „Die wichtigste Aufgabe des Feldherrn ist, sich klarzumachen was der Feldzug bedeutet!“ Deshalb endete die Strategie staubaufwirbelnder, mediatisierter Präsenz-Patrouillen im Rückzug und militärischer Niederlage. Der politische Zweck wurde ohne das für den Erfolg notwendige militärische Mittel gedacht: operative Landkriegsführung mit Luftnahunterstützung und taktischen Luftlandungen! 

Der Deutsche Bundestag und die Bundesregierung offerierten den Vereinigten Staaten „unbeschränkte Unterstützung“ im Kampf gegen die Terrororganisation al-Qaida unter Bin Laden und verteidigten „die Freiheit der Deutschen am Hindukusch“ ohne ein nennenswertes Potential wenigstens taktischer Fähigkeit zur Führung von Luftlandeoperationen. 

So konnten im deutschen Regionalkommando Nord die Taliban nicht im Sinne der US-Generale McChrystal und Patraeus weder „gejagt“ und schon gar nicht weiträumig „eingekreist“ und geschlagen werden. Die luftbewegliche operativ-taktische Komponente wäre aber das Element sowohl der Überraschung, als auch der Schnelligkeit gewesen, dem Gegner das Gesetz des Handels aufzuzwingen. Das Versagen der militärischen Rüstungsplanung, so gut wie keine Hubschrauber und Kampfzonentransporter für eine Gefechtsführung im Sinne des Kreta-Unternehmens zur Verfügung zu haben, zwangen zu einem „Krieg mit gefesselten Händen“ (JF 5/12). 

Sicherung der Lebensadern von Industrienationen

Dieser Mangel führte uns zu einem psychologischen, weithin unterschätzten Dilemma: Die Einschränkung der soldatischen Tugenden des Thomas von Aquin, die der deutsche Fallschirmjäger in der Schlacht von Kreta in überragender Weise zum Tragen gebracht hatte: Kühnheit, Initiative – selbstständiges Führen in der Tradition deutscher Auftragstaktik. In Verbindung mit der „Geistesarmut“ fortgesetzter „Präsenzpatrouillen“ und frühzeitig, vom Taliban aufgeklärter combined operations wie Halmazag lähmte die Gängelung der militärischen Führer aller Ebenen durch die Politik und das vom Geschehen weit entfernte Einsatzführungskommando und ihr Imperativ „Keine toten Soldaten!“ genau die Eigenschaften, welche die Führer und Soldaten der Fallschirm- und Gebirgstruppe auf Kreta auszeichneten: eigenständiges Handeln im Sinne des Auftrages – und nicht Abschieben der Verantwortung auf die Bombardements alliierter Kampfjets wie in Kundus 2009 und nochmals 2015 – mit den dort verursachten exorbitanten „Kollateralschäden“ zerstörter Krankenhäuser und getöteter Zivilisten. 

Die Luftlandeoperation „Merkur“, die im Lichte der Verluste der deutschen Fallschirmtruppe eher dem gescheiterten Flug des mythischen Ikaros ähnelt, der auf seinem Flug von „Kreta“ abstützte, als er aus Übermut der Sonne zu nahe kam – und wie viele Fallschirmjäger am 20. Mai 1941 – im Mittelmeer versank, könnte in der Gegenwart, unter geopolitischer Perspektive große Bedeutung erhalten, nämlich dann, wenn Abu Bakrs Terrorbrigaden seines selbsternannten Kalifats die Lebensadern der Industriemächte und damit Deutschlands eroberten oder blockierten – den Suez-Kanal in Nordafrika oder die Straße von Hormus im Mittleren Osten. 

Die einzigen Politiker, die diese geostrategische Gefährdung überhaupt erkannten und öffentlich aussprachen, waren der vormalige und der amtierende Bundespräsident. Der Professor der Wirtschaftswissenschaft Horst Köhler hatte anläßlich eines Besuchs der deutschen Soldaten im afghanischen Masar-e Scharif am Ehrenmal für die Gefallenen deutschen Soldaten auf die Bedeutung der Seewege für die Prosperität der Wirtschaftsmacht Deutschland hingewiesen. Danach wurde er von deutschen Politikern, Historikern und in tonangebenden Medien an den Pranger gestellt: Sein vorauschauendes Denken in übergeordneter Perzeption wurde als „Rückfall in das verhängnisvolle Imperiale deutsche Denken“, die Restauration des „Griffs und der Weltmacht“ gebrandmarkt. 

Die Polemik der Debatte beschädigte die Würde des Amtes und der Person und führte zum Rücktritt. Die Folgen waren verheerend; niemand in der politischen Klasse wagte es fortan, in Kategorien der Machtpolitik, der transepochalen Triebkraft des nationalen Interesses (Thomas Hobbes) zu denken. Erst der Theologe Joachim Gauck hatte den Mut, anläßlich einer Gedenkveranstaltung zum Tag der Deutschen Einheit, eine Schlußfolgerung aus einer objektiven Bedrohungsanalyse zu ziehen: „Es könnte eine Lage eintreten, in der auch Deutschland gezwungen sein könnte, im Nahen Osten militärische Macht einzusetzen.“

Diese hochbrisante Aussage verpuffte ohne politische und militärpolitische Debatte. Dabei stand sie in der thematischen Kontinuität des kosmopolitischen Journalisten Peter Scholl-Latour. Dieser hatte frühzeitig im Sinne des Theoretikers der Machtpolitik Niccoló Machiavelli vorausschauend die Bedrohungen aus dem Eroberungszug des „Islamischen Staates“ in seinem Buch „Der Fluch der bösen Tat“ in drastischer Sprache niedergelegt. Die deutsche oberste Militärführung schwieg, wo doch Scholl-Latour nach dem Grundsatz des römischen Philosophen und Staatsmannes Cicero handelte, das „Wohl des Volkes“ zur Maxime des Denkens und Handels zu machen. 

Wenn die Seewege und Transportrouten noch immer die Lebensadern des „schwarzen Goldes“, der Macht des Öls und anderer knapper Ressourcen darstellen, die für die Prosperität und Überlebensfähigkeit der Industriemacht Deutschland unverzichtbar sind, dann ist es Aufgabe und Pflicht der politischen Klasse und des Militärs, auf Grundlage einer analytischen Prognose (Reinhart Koselleck) strategische Pläne in der Schublade zu haben, um nicht wie zuletzt in Mali, Irak-Kurdistan und Syrien gelähmt wie das Kaninchen vor der Schlange handlungsunfähig zu sein. Wenn die deutsche Politik im Rahmen der Uno, Nato und EU ein Akteur im eigenen Sicherheitsinteresse sein möchte, dann wäre aufgrund der geopolitischen Lage und der Dimensionen von Raum und Zeit das Luftlandeunternehmen „Merkur“ 1941 ein Prototyp „vorausschauenden Denkens und strategischer, präventiver Planung. Dabei würden vor allem die von der damaligen Führung gemachten Fehler in den Fokus zu nehmen sein: die Bedeutung der Aufklärung zur Feststellung der Stärke des Gegners, des Verlaufs der Stellungen – und heute des Kampfwertes der Terror-Milizen des IS oder Boko Harams. Diese Ergebnisse wären die Indikatoren für die Erziehung, Ausbildung und Ausrüstung der Soldaten, die in „triphibischen Interventionen“ in Nordafrika oder am Persischen Golf eingesetzt werden würden. 

Ausbildung zu psychischer und physischer Härte

Der äußerst verlustreiche, von manchen Historikern und „Alten Adlern“ bestrittene „Pyrrhussieg“ auf Kreta, der „zum Tode der Fallschirmtruppe als strategischer Überraschungswaffe führte“ (Generaloberst Kurt Student), wäre dann in doppelter Perspektive für triphibische Militäroperationen der Gegenwart und Zukunft von Bedeutung: keine Sturmlandung in den Feind, sondern nach der bekannten Devise des Stoßtruppführers Erwin Rommel im Ersten Weltkrieg „Schweiß spart Blut“ – die allerdings Erziehung und Ausbildung zu psychischer und physischer Härte nach sich zieht. Diese sind in Gefecht und Luftlandung erst die Voraussetzung, nach dem Vorbild der Fallschirm- und Gebirgsjäger auf Kreta zu handeln: Kühnheit, Initiative und Durchhaltewillen sowie das Band der Kameradschaft „Treue um Treue“.

Diese Reflexion der „Schlacht um Kreta“ würde dann – nach einem Wort des katholischen Moralphilosophen Josef Pieper – „eine Transformation bewirken können“: eine Formkraft des Soldaten der Bundeswehr im Einsatz „out of area“, eine „höhere Sendung“ (Ernst Jünger) für Freiheit und das Wohl des deutschen Volkes. „Kreta“ wäre dann nach dem großen Philosophen und Erzieher Alexanders des Großes Aristoteles auch heute in einer postheroischen Epoche „Proviant kriegerischer Tüchtigkeit“!






Dr. Günter Roth, Brigadegeneral a.D., ist Fallschirmjäger und war Amtschef des Militärgeschichtlichen Forschungsamts (MGFA).