© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/16 / 27. Mai 2016

Nachlaßverwalter auf Abruf
SPD: Parteichef Sigmar Gabriel ist erkennbar amtsmüde – doch ein möglicher Nachfolger ist weit und breit nicht in Sicht
Paul Rosen

Franz Müntefering nannte den Chefposten der SPD „das schönste Amt neben Papst“. Wenn man einen späten Nachfolger des Sauerländers Müntefering, den Harzer Sigmar Gabriel danach fragt, geht er sofort in Deckung und spricht vom Privatleben: „Viele Leute in meiner Umgebung wissen, daß ich ein glückliches Familienleben habe und meine persönliche Zufriedenheit nicht an einem Dienstwagen hängt.“ 

Der Zustand der SPD ist katastrophal: Die Partei, die 1998 deutschlandweit über 40 Prozent der Stimmen erhielt, wurde keine zwanzig Jahre später halbiert. Erste Umfragen bescheinigen ihr Werte unter 20 Prozent. Für nicht wenige Publizisten ist klar, daß die Zeit der SPD zu Ende geht und sie überflüssig ist, nachdem Mindestlohn, Rente mit 63 und weitere Wohltaten durchgesetzt worden sind. Der Publizist Stephan Paetow spottete auf der Internetseite „Tichys Einblick“: „Die Beerdigung Helmut Schmidts war der letzte große Auftritt der SPD. Am Sarg des Ex-Kanzlers konnten sie ihre Partei noch einmal hochleben lassen, wohl kaum einer der Genossen dürfte bemerkt haben, daß es auch ihre eigene Beerdigung war.“

Dieser und anderen Thesen, die der SPD nur noch eine Existenz am Rand des Parteienspektrums bescheinigen, widerspricht der Hamburger Bürgermeister Olaf Scholz: „Die SPD ist viel besser als ihr derzeitiger Ruf. Sie regiert in 13 von 16 Bundesländern, stellt neun Regierungschefs und macht gute Arbeit in den Ländern und im Bund.“ Und Björn Engholm, ein früher Vorgänger des  heutigen SPD-Vorsitzenden, ergänzt: „Es kann nicht allein an Sigmar Gabriel liegen.“ 

Doch es liegt auch an ihm. Der SPD-Chef pflegt seine Meinung schneller zu ändern als Bayerns Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU). In der Flüchtlingskrise lag Gabriel erst voll auf „Refugees welcome“-Linie der CDU, um schließlich Stützungsmaßnahmen für die deutsche Bevölkerung zu fordern, weil diese Nachteile erleiden könnte. Was Gabriel von den höchst umstrittenen Freihandelsabkommen hält, weiß man auch nicht so genau. 

Funktionsträger hängen an Dienstwagen

Die regelmäßigen Schwankungen weisen auf ein größeres Problem hin: Gabriel weiß nicht, wohin er den Tanker SPD steuern soll. Rein theoretisch möglich wäre schon in diesem Bundestag ein rot-rot-grünes Bündnis von SPD, Linkspartei und Grünen. Nur seit dem Aufkommen der AfD, die die SPD sehr viele Wähler gekostet hat und in Zukunft kosten dürfte, dürfte diese Konstellation 2017 keine Mehrheit mehr erreichen. Gabriel bleibt nur die weitere Anbiederung an die Union oder die Opposition. Selbst ein Gespräch mit dem zur Linken abgewanderten früheren Parteichef Oskar Lafontaine scheint Gabriel zu keinem gedanklichen Durchbruch verholfen zu haben.

Gabriels potentielle Mitbewerber um die SPD-Kanzlerkandidatur 2017 wissen um die Chancen der SPD (bei unveränderten allgemeinpolitischen Verhältnissen) und haben bereits ausrichten lassen, nicht zur Verfügung zu stehen. Europaparlamentspräsident Martin Schulz wird nach eigenen Angaben in Straßburg gebraucht, Scholz in Hamburg, Arbeitsministerin Andrea Nahles fühlt sich noch zu jung, und von der nordrhein-westfälischen Ministerpräsidentin Hannelore Kraft spricht seit den fürchterlichen Bilanzen der Landespolitik niemand mehr. Außenminister Frank-Walter Steinmeier hätte zwar Erfahrung im Scheitern als Kanzlerkandidat, will aber auch nicht. Wie verzweifelt die Suche nach einem Kandidaten ist, zeigt, daß jetzt sogar Malu Dreyer ins Spiel gebracht wird, nur weil die bundesweit völlig unbekannte Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz bei der Landtagswahl ein überdurchschnittliches Ergebnis erzielte. Bei so viel Absagen konnte Gabriel mit einer Mitgliederbefragung zum Kanzlerkandidaten kokettieren und wurde dafür zu Recht mit dem Vorwurf, das sei „Klamauk, sonst nichts“ bedacht. Vermutlich will er nach einer verlorenen Wahl 2017 die potentiellen Mitbewerber in Mithaftung nehmen: Hättet ihr kandidiert, wäre es vielleicht besser ausgegangen. 

Die wirklichen Probleme liegen tiefer. Der Parteienforscher Jürgen Falter nennt einige: Die SPD „findet keine Antworten auf Fragen, die die Bevölkerung umtreiben, ob es um innere Sicherheit geht oder um höhere Einkommen. Die Kluft zwischen der Vorstellungswelt der SPD-Funktionäre und dem, was ihre potentielle Wählerklientel interessiert, scheint sehr groß geworden zu sein.“ 

Gabriel selbst hat die Situation auf einer Parteikonferenz in Berlin beschrieben: „Früher hatten wir Betriebsräte im Landtag und in der Kommunalpolitik, den Chef der Feuerwehr, den Chef des Sportvereins. Heute haben wir pensionierte Betriebsräte, den Vorsitzenden der Altersabteilung der Feuerwehr und den Ehrenpräsidenten des Sportvereins.“ 

Anzufügen ist, daß diese Senioren in den Gremien nichts mehr zu sagen haben, sondern nur Statisten für ganz andere Leute sind. Engholm beschreibt die SPD als Partei, in der Arbeiter keine Chance mehr haben: „Statt dessen bietet sich nur noch eine intelligentere, gut ausgebildete junge Generation an. Sie kommen aus Berufen, in denen Sprache und Darstellung eine Rolle spielen. Wir konnten sie schon zu meiner Zeit irgendwann nicht mehr auseinanderhalten: Die neuen Sozialdemokraten, Christdemokraten und Liberalen kamen alle von denselben Universitäten, hatten denselben Haarschneider, denselben Herrenausstatter, denselben Coach.“ Vielleicht liegt das Problem, daß die Bundestagsparteien (einschließlich der von Engholm nicht erwähnten Grünen) immer enger zusammenrücken, nicht allein an der asymmetrischen Demobilisierungspolitik der CDU, sondern auch an der zunehmenden Homogenität des politischen Personals? 

Die Funktionsträger kennen die Milieus nicht, die die SPD groß gemacht haben, sondern sie werden auf Themen setzen, die ihnen die Think Tanks und Politikberater nennen. Und ganz im Unterschied zu Gabriels Erklärung hängen sie an Dienstwagen, Posten, Privilegien und Pfründen, wollen 2017 wieder mitregieren. Denn schon Müntefering wußte: „Opposition ist Mist.“