© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/16 / 27. Mai 2016

Im Kampf gegen die Kurden ist alles erlaubt
Türkei: Zweidrittelmehrheit für Erdogans Verfassungsreform / Dutzende Oppositionsabgeordnete stimmen für eigene Selbstentmachtung
Marc Zoellner

Am Ende blieb den Abgeordneten der Republikanischen Volkspartei (CHP) nichts übrig als zynisches Beifallklatschen: Genau 373 der 550 Parlamentsabgeordneten hatten für die Änderung des Artikels 83 der türkischen Verfassung gestimmt. Ein Schockerlebnis für die Opposition, die ohnehin schon um jeden Quadratzoll ihres schwindenden Einflusses zu ringen hat. Denn mit der Abstimmung war es der islamistischen Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) von Präsident Recep Tayyip Erdogan gelungen, gleich eine ganze Reihe an Oppositionspolitikern nicht nur machtpolitisch, sondern auch juristisch kaltzustellen.

Gerade für die linksnational-kemalistische CHP sollte jedoch auch die Auszählung zum weiteren Schockmoment gereichen. Denn 373 Abgeordnete, die für Erdogans Vorstoß stimmten, bedeuteten rein rechnerisch ebenfalls, daß sich auch eine zweistellige Anzahl an laizistischen Abgeordneten der AKP angeschlossen hatten und daß sie damit auch gegen ihren eigenen Vorsitzenden, Kemal K?l?çdaroglu, votierten. Und gerade dieser sieht sich nun im Kreuzfeuer der Justiz: Die Änderung des Artikels 83 bedeutet nämlich konkret, daß künftig nicht mehr das Parlament nach Abstimmung, sondern die türkische Staatsanwaltschaft nach Belieben die Immunität von Abgeordneten aufheben darf.

„Meine Nation möchte keine schuldigen Gesetzesmacher im Parlament dieses Landes sehen“, hatte der türkische Präsident nur wenige Stunden zuvor auf einer Veranstaltung in der nordosttürkischen Schwarzmeerstadt Rize (Rizini) verkündet. „Und vor allem möchte sie niemanden im Parlament sehen, der separatistische Terrorgruppen unterstützt.“ Daß Erdogans Vorstoß dabei besonders auf die prokurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) abzielte, stellte kaum mehr ein Geheimnis dar. Gegen gleich 53 der 59 HDP-Parlamentarier hatten sich mittlerweile staatsanwaltschaftliche Strafanträge aufgrund „Terrorismusverdachts“ angesammelt.

Beinahe 800 Strafanträge gegen fast 150 Abgeordnete

Oftmals geht es um kaum mehr als Redebeiträge. Denn eine tatsächliche Verbandelung der HDP mit der kommunistischen Terrorgruppe PKK konnte in keinem Fall nachgewiesen werden. Prinzipiell hatte die CHP gegen das ursprüngliche Ansinnen der Parlamentsmehrheit, die Immunität einzelner Abgeordneter lediglich dann aufzuheben, wenn ein tatsächlicher Akt der Unterstützung terroristischer Vereinigungen gemutmaßt würde, auch nichts einzuwenden. Allein schon, um ihre eigenen, durchaus auch türkisch-nationalistischen Wählerschaften nicht zu verschrecken, denen tagtäglich Bilder des Grauens und der Zerstörung aus den Städten der Südosttürkei vor Augen geführt werden. Seit der Aufkündigung des Waffenstillstands der PKK mit dem türkischen Staat starben allein vom vergangenen Juli an in diesem bürgerkriegsartigen Konflikt über 500 Soldaten sowie bis zu 4.500 militante Anhänger der kurdischen Separatisten.

Doch im Endeffekt ging es der AKP um weit mehr. Künftig, so der Duktus der Alleinregierungspartei, solle jeder strafrechtliche Belang, und nicht mehr nur Terrorismusverdacht, zur Aufhebung der Immunität führen. „Hätten wir allein die HDP damit angreifen wollen, hätten wir das gekonnt“, rechtfertigte der AKP-Abgeordnete Ayhan Üstün die Überparteilichkeit des Gesetzesentwurfs gegenüber Al Jazeera. „Statt dessen gilt dieses Gesetz nun für sämtliche Abgeordneten der AKP, CHP, MHP und der HDP.“ Tatsächlich sind von der Verfassungsänderung auch 27 AKP-Mitglieder betroffen – einschließlich Üstün.

Doch in der Masse der erwarteten Klagen werden diese untergehen. Beinahe 800 Strafanträge gegen fast 150 Abgeordnete liegen dem Ankaraer Parlament bislang vor. Unter den Beschuldigten befinden sich neben der einzigen unabhängigen Parlamentarierin auch zehn Fraktionsmitglieder der rechten Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), welche geschlossen für den AKP-Entwurf stimmte, sowie 55 Abgeordnete der CHP. Allein zu Parteichef K?l?çdaroglu sollen 41 Anklageschriften vorliegen, das Gros davon wegen Beleidigung des – noch mehr Vollmachten anstrebenden – Präsidenten Erdogan.