© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/16 / 27. Mai 2016

Sie haben Angst vor ihrer Entwertung
Von Widerrede keine Spur: Viele Intellektuelle befinden sich in einer Zwangsgemeinschaft mit der Politik
Thorsten Hinz

Das sogenannte Flüchtlingsproblem ist nur eines von vielen, bei denen ein „geradezu einheitsparteilicher Konformitätsdruck“ herrscht, wie der Soziologe Wolfgang Streeck kürzlich meinte, und nicht nur der Bundestag „abgedankt“ hat (Erika Steinbach). Eine Situation, die wie geschaffen wäre für Intellektuelle, die sich danach drängen, die oppositionelle Vakanz zu füllen. Laut Arnold Gehlen bilden sie von Natur aus eine „Gegen-Aristokratie, die zu der amtierenden der Staatsverwaltung, der Militärs, der Geschäftsleute usw. in der Opposition des schlechthin unaufhörlichen Kritisierens steht“.

Die Kritik begründet ihre gesellschaftliche Position. Denn während die anderen sich in den Alltagsniederungen bewegen, sind sie die „Verteidiger ewiger und interessenfreier Werte wie der Vernunft und der Gerechtigkeit“, so Julien Benda, der ganz selbstverständlich davon ausging, daß der Geist links steht. Gehlen schätzte ihre Mission nüchterner ein. Er sah den Intellektuellen-Begriff von einer Gruppe okkupiert, die er als Hypermoralisten bezeichnete, die keinerlei Verantwortung für ihr Handeln trügen.

Ein paar Außenseiter werden geduldet

Wie dem auch sei, es ist erklärungsbedürftig, daß ihre Widerrede zur Politik heute ausbleibt, wenn man von den paar Außenseitern absieht, die aus kosmetischen Gründen geduldet werden. Es wird zwar eifrig kommentiert, debattiert und kritisiert, doch die Kritik gilt nicht der Politik, sondern deren Kritikern! Ein riesiger, weitgehend mit Steuergeldern finanzierter Überbau aus Journalisten, Politologen, Gewalt-, Bildungs-, Frauen-, Extremismus-, Demokratie- und Migrationsforschern sowie Fernsehspaßmachern ist damit beschäftigt, jeden Widerspruch als nationalistisch, rassistisch, extremistisch zu denunzieren.

Kritische Bemerkungen zur Politik betreffen nicht die Richtung, nur ihre unzureichende Kommunikation oder Effizienz, was ja eine besondere Form der Akklamation ist. Die Linksintellektuellen sind mit ihrer hypermoralistischen Eine-Welt-Ideologie zum integralen Bestandteil des zur „marktkonformen Demokratie“ (Angela Merkel) geschrumpften Staates geworden. 

Die Selbstbeschränkung auf die Rolle des Claqueurs macht sie im Sinne Gehlens überflüssig. Sucht man nach den Gründen, stößt man zunächst auf die bekannten deutschen Besonderheiten. Die Journalistin Sabine Bode veröffentlichte 2006 das an sich lobenswerte Buch „Kriegsspuren. Die deutsche Krankheit German Angst“, in dem sie die auffälligen Eigenheiten der Deutschen aus ihren Kriegstraumata herleitet. Das starre Täter-Opfer-Schema wird von ihr zwar nicht zertrümmert, doch immerhin ergänzt.

Im Vorwort zur aktuellen Neuausgabe zieht Bode die „Willkommenskultur“ vom Sommer 2015 als Beleg dafür heran, daß die emotionalen Blockaden sich endlich gelöst hätten dank der „unaufgeregten“ Politik Angela Merkels! Ärgerlich seien nur die Pegida-Demonstranten im Osten, die Bode damit erklärt, daß in der DDR die psychischen Kriegsbeschädigungen nicht ausheilen konnten, sondern sich verdoppelt hätten. Ohne auf die Irrtümer, Halb- und Viertelwahrheiten der Diagnose einzugehen, soll hier nur festgestellt werden, daß die Autorin es für normal statt für pathologisch hält, wenn ein Volk, das 1945 ein Drittel seines Siedlungsraumes verloren hat, auch sein Restterritorium zur Fremdbesiedlung bereitstellt. Für diese Inversion zur Selbstzerstörung wurde bereits ein Terminus kreiiert: Der Potsdamer Zeitgeschichtler Martin Sabrow sprach in der Zeit vom „kathartisch grundierten Politikverständnis der Bundesrepublik“. 

Eine riesige Schadensbilanz

Das sind zwei aktuelle Beispiele für die zivilreligiös und nationalmasochistisch bedingte Regression des intellektuellen Lebens. Sie korrespondiert mit dem Niveauverlust in der Politik, wo die Qualifikation der Akteure immer zweifelhafter erscheint. Doch läßt die affirmative Begleitung der Politik durch Journalisten und Experten aller Art sich nicht allein mit Irrtümern, Fehlwahrnehmungen oder ideologisch bedingter Realitätsblindheit erklären. Allzu offensichtlich sind die katastrophalen Folgen der Grenzöffnung oder des Euro. 

Entscheidend ist das schnöde Eigeninteresse. In sämtlichen Fragen, in denen bundesdeutsche Intellektuelle sich „engagiert“ und auf die Politik eingewirkt haben – zuletzt Multi-Kulti, Europa, Islam, Bildung, „Flüchtlinge“ – ergibt sich eine riesige Schadensbilanz. Der Bevölkerungswissenschaftler Volkmar Weiss nennt das die „Wechselwirkung zwischen Intelligenzproletariat, Massenmedien und Parteien“. Sie ist Bestandteil „des Selbstzerstörungsprozesses, in dem die Dummheit der Halbintelligenten schon seit langem die Regie führt“.

Im Ergebnis befinden die Intellektuellen sich in einer Zwangsgemeinschaft mit der Politik und sind logischerweise bestrebt, einen politischen Paradigmenwechsel zu verhindern. Andernfalls stürzte auch ihr Prestige ins Bodenlose und drohte ihnen das Schicksal der DDR-Intellektuellen, deren kollektiven Abstieg der Ost-Berliner Sozialphilosoph Michael Brie vor 25 Jahren so beschrieben hat: „Mit dem Verlust des sicheren Arbeitsplatzes im staatlichen Wissenschafts-, Kunst- und Medienbetrieb der DDR verloren viele Intellektuelle ihr ökonomisches Kapital. Ihnen droht Verarmung, teils relativ, teils absolut. Mit der Zerschlagung der ideologischen Apparate der DDR und deren institutionellem Gefüge verloren sie ihr soziales Kapital. Nähe zur SED, zu den Staatsorganen, einschließlich Staatssicherheit, werden durchweg als nicht begleichbare Schulden angesehen. Die intellektuelle Elite der DDR hat keine Macht-Beziehungen mehr. Mit dem Themenwechsel der Politik und dem Einzug westdeutscher Sprache und Symbolik verloren sie ihr politisches Kapital. Sie stehen für keine Zukunft mehr. Schon ihre Anwesenheit allein erinnert an Niederlage und Versagen. Vor allem aber verloren sie ihr kulturelles Kapital. Ihr gesamtes Wissen und Können, ihre Weise, sich auszudrücken und zu handeln, sind entwertet ...“

Die Medienkrise verschärft die Situation

Diese Entwicklung läßt sich leicht auf heutige Verhältnisse übertragen und antizipieren. Schon jetzt sind viele der intellektuellen Existenzen prekär, was sie erpreßbar macht, falls sie denn je von geistiger Unabhängigkeit eine Vorstellung hatten. Die Krise der traditionellen Medien verschärft die Situation permanent. Proportional dazu steigern sie die Lautstärke ihrer Propaganda, was auch eine verklausulierte Bitte um Staats- beziehungsweise Steuergeld ist. Mit der Entwertung des Abiturs steigt die Zahl unbefähigter Studenten, die in Schwadronierfächer drängen und darauf setzen, daß der Staat die Strukturen für den „Kampf gegen Rechts“, im Gender-, im Sozialarbeiter- oder eben Flüchtlingsbereich ausbaut und sie dort aufnimmt, was wiederum die Bereitschaft zum Konformismus und Bütteldienst voraussetzt.

Das alles fiele nach einer politischen Wende fort. Mit dem ökonomischen wäre auch das soziale Kapital verloren, das sich seit dem Einsetzen „Lügenpresse“-Rufe bereits halbiert hat. Die Einbindung in Institutionen, Medien, Parteigremien, die Ansehen, Einfluß, Machtgefühl verhieß, fängt an, sich in der Öffentlichkeit als Vorwurf gegen sie zu wenden. Sie fürchten, Rechenschaft ablegen zu müssen über ihr Geschwätz von gestern, ihre geistige und moralische Biegsamkeit, die Gefälligkeitsgutachten, mit denen sie Anschlußaufträge und neue Drittmittel einwarben; über die Mißachtung geistiger und moralischer Standards. Der fällige, tabufreie Abgleich ihrer Theorien und Medienbilder mit der Praxis würde die meisten bestenfalls als Opportunisten, andernfalls als Dummschwätzer entlarven. Die eben noch Jäger und Ankläger waren, würden selber zum Gegenstand der kritischen Beschreibung werden. Ihr kulturelles Kapital würde sich mit dem Verschwinden ihrer infantilen Begrifflichkeit in Luft auflösen.

Kreationen wie „Willkommenskultur“ oder „kathartische Politik“ wecken Erinnerungen an die letzten Jahre der DDR, als SED-Chef Honecker, der sich mit der Ablehnung jeglicher Reformen sogar im sozialistischen Lager isoliert hatte, plötzlich den Begriff „Sozialismus in den Farben der DDR“ aus dem Hut zauberte und die Gesellschaftswissenschaftler hinterher beauftragt wurden, der Leerformel einen halbwegs plausiblen Inhalt zu geben.

Der damalige Merkur-Herausgeber Karl Heinz Bohrer meinte 1990, daß die Karrieren der DDR-Intellektuellen zu nicht mehr ausreichten als zu schmerzvollen und notwendigen Einzel- oder Gruppenanalysen. Der Satz war in seiner Absolutheit infam, aber nicht gänzlich unzutreffend. Er betrifft auch heute eine Mehrheit. Macht man sich die innere und äußere Zwangslage der Intellektuellen bewußt, wird klar, daß es ihnen nicht um die Stichhaltigkeit von Argumenten, sondern um die Verteidigung ihrer schwankenden Stellung geht. Ihre sachliche Widerlegung ist deshalb nur der Anfang und nicht einmal die Hauptsache. Es muß auch darum gehen, ihren sozial und diskursiv parasitären Charakter herauszustellen und politisch gegen sie aufzutreten.