© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/16 / 27. Mai 2016

Ein Sieg, der ohne Folgen blieb
Vor hundert Jahren fand am Skagerrak die größte historische Seeschlacht zwischen der britischen und deutschen Flotte statt / An der strategisch verheerenden Seeblockade Deutschlands änderte das allerdings nichts
Rolf Bürgel

Am 31. Mai 1916 fand in der Nordsee zwischen der deutschen Hochseeflotte und der britischen Grand Fleet eine der größten Schlachten der Seekriegsgeschichte statt. Sie ist in Deutschland unter der Bezeichnung „Seeschlacht vor dem Skagerrak“ und in England unter der Bezeichnung „Battle of Jutland“ in die Geschichte beider Länder eingegangen. Diese Schlacht, an der deutscherseits 99 Schlachtschiffe, Schlachtkreuzer, Kleine Kreuzer und Torpedoboote und auf englischer Seite 150 Einheiten der gleichen Typen beteiligt waren, war die letzte klassische Seeschlacht, in der die Schwere Artillerie das entscheidende Wort sprach. Es war auch das erste und einzige Mal, daß sich Schlachtschiffe vom Typ Dreadnought und Super-Dreadnought in rangierter Seeschlacht gegenüberstanden.  

In der Geschichte haben große Seeschlachten immer wieder dazu beigetragen, den Verlauf der Historie entscheidend zu beeinflussen beziehungsweise zu verändern. Als England am 4. August 1914 an der Seite Rußlands und Frankreichs in den seit vier Tagen laufenden Krieg gegen das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn eintrat, erwartete man sowohl in England als auch in Deutschland, daß die „brutal überlegene“ britische Flotte sofort die deutsche Nordseeküste eng blockieren – wie im Krieg gegen Napoleon –, damit die deutsche Flotte zur Schlacht herausfordern und ihr ein zweites Trafalgar bereiten würde. Doch das geschah nicht. Beide Flotten – immerhin die kampfkräftigsten der Welt – lagen auch nach Kriegsbeginn untätig in ihren Häfen. 

Jede Seekriegsführung ist auf die Kontrolle über die Seehandelsstraßen ausgerichtet mit dem Ziel, sie dem eigenen Handel auch in Kriegszeiten offenzuhalten, dem Gegner jedoch zu verschließen. Zweifellos ist die Vernichtung der gegnerischen Flotte das sicherste Mittel zur Erreichung dieses Zieles. Doch die Seeschlacht ist so sehr Mittel zu diesem Zweck, daß auf sie so lange verzichtet werden kann, wie der Gegner die Seeherrschaft nicht streitig macht. Aus der Enge der Deutschen Buch heraus war die deutsche Flotte dazu aber nicht imstande. Es genügte also für die britische Flotte, die Nordsee an ihren Zugängen zu blockieren, um den eigenen Handel zu sichern und den deutschen abzuwürgen.

Ahnungslos liefen beide Flotten aufeinander zu

Für die Kaiserliche Marine aber stand das Herbeiführen der Seeschlacht im Mittelpunkt ihres strategischen Denkens, und zwar in den eigenen Gewässern in einem Radius von einhundert Seemeilen rund um Helgoland. Zunächst sollte allerdings versucht werden, durch wiederholte Flottenvorstöße Teile der britischen Flotte aus ihren Häfen zu locken und zur Schlacht zu stellen, um so einen gewissen Kräfteausgleich zu schaffen. 

So beschossen die Schlachtkreuzer unter Admiral von Hipper am 3. November und wieder am 19. Dezember 1914 Ziele an der britischen Ostküste, ohne von der britischen Flotte daran gehindert zu werden. Doch nachdem ein Vorstoß am 24. Januar 1915 auf der Höhe der Doggerbank auf einen überlegenen britischen Verband gestoßen war und der Panzerkreuzer „Blücher“ verlorenging, fanden diese Aktivitäten mit der Ablösung des Flottenchefs Admiral Friedrich von Ingenohl ihr Ende. 

Erst als Anfang 1916 der bisherige Chef des II. Geschwaders Admiral Reinhard Scheer das Flottenkommando übernahm, kam wieder Bewegung in die deutsche Flotte. Aber vier Vorstöße brachten wieder keine Gefechtsberührung mit der britischen Flotte. Doch Scheer gab nicht auf. Am 31. Mai 1916 lief er mit der gesamten Flotte zu einem Vorstoß in das Seegebiet des Skagerrak aus. Dabei wußte er nicht, daß die britische Flotte bereits am Vortag ebenfalls in voller Stärke in See gegangen war. Volk und Presse in England erregten sich immer heftiger über die Passivität ihrer einst so hoch gelobten Flotte, die sich so gezwungen sah, endlich aktiv zu werden. Hinzu kam die russische Forderung, die britische Flotte solle in die Ostsee eindringen und den unbedingt notwendigen Nachschubweg öffnen. Dazu aber mußte zuvor die deutsche Flotte geschlagen werden. 

Allerdings ahnten auch die Engländer nicht, daß sich die deutsche Flotte in See befand. Es war zwar gelungen, den deutschen Funkverkehr abzuhören. Da sie jedoch nicht wußten, daß das deutsche Flottenflaggschiff „Friedrich der Große“ seine Funkkennung mit jener der III. Schleuse von Wilhelmshaven getauscht hatte, wähnten die Engländer die Hochseeflotte noch immer im Hafen. So liefen die beiden stärksten Schlachtflotten der damaligen Zeit ahnungslos zur größten Seeschlacht der Geschichte aufeinander zu. 

Die Seeschlacht vor dem Skagerrak war die komplizierteste, aber auch am besten erforschte und dokumentierte Seeschlacht der Geschichte. Daher soll ihr Verlauf hier nur in groben Strichen nachgezeichnet werden.

Am 31. Mai 1916 trafen zunächst nur die Schlachtkreuzer der beiderseitigen Aufklärungskräfte – die ihren Gros mit Abstand voraus gelaufen waren – aufeinander. Um 4.48 Uhr eröffneten beide Seiten auf eine Entfernung von 19 Kilometern das Feuer. Die Engländer verfügten über sechs Schlachtkreuzer und die vier neuesten und kampfkräftigsten Schlachtschiffe der „Queen Elisabeth“-Klasse, die Deutschen über fünf Schlachtkreuzer.  

Die Deutschen schossen sich schnell ein. Bereits um 5.03 Uhr flog der britische Schlachtkreuzer „Indefatigable“  durch einen Treffer in die Munitionskammer in einer gewaltigen Explosion in die Luft. Zwanzig Minuten später ereilte den Schlachtkreuzer „Queen Mary“ das gleiche Schicksal. 

Hipper zog sich zurück, um die englischen Schiffe auf die im Anmarsch befindliche Hochseeflotte zu ziehen. Die Briten nahmen die Verfolgung auf, um plötzlich und unerwartet auf das Gros der Hochseeflotte zu stoßen. Durch ihre höhere Geschwindigkeit konnten sie sich dem deutschen Feuer entziehen. Der britische Admiral David Beatty wollte mit diesem Manöver nun seinerseits die Deutschen vor die Kanonen der im Anmarsch befindlichen Grand Fleet ziehen.  

Erst jetzt hatten beide Gegner bemerkt, daß sie in voller Stärke aufeinandergetroffen waren. Dabei befanden sich die Deutschen in einer unglücklichen Position. Die britische Flotte fuhr in einem klassischen „Crossing the T“ – also T-Strich – quer vor der deutschen Spitze vorbei und konnte mit allen Geschützen feuern, während auf der deutschen Seite nur die Spitzenschiffe und diese auch nur mit den Buggeschützen antworten konnten. Scheer sah sich der kampfkräftigsten Kiellinie gegenüber, die es je gegeben hatte. Trotzdem fochten die Deutschen anfangs noch erfolgreich.  

Der britische Schlachtkreuzer „Invincible“ flog nach fünf schweren Treffern in die Luft, desgleichen der Panzerkreuzer „Defence“. Sein Schwesterschiff „Warrior“ wurde wie das Schlachtschiff „Warspite“ so schwer beschädigt, daß beide Schiffe aus der Linie ausscheren mußten. Die Deutschen verloren den Kleinen Kreuzer „Wiesbaden“, auf dem der als Gorch Fock bekannt gewordene Matrose Johann Kinau fiel. 

Aber die Gesamtlage der deutschen Flotte war brandgefährlich. Der Erste Offizier des Schlachtkreuzers „Derfflinger“ hat später berichtet: „Die Spitze unserer Flotte war halbkreisförmig von der feindlichen Flotte umgeben. Wir befanden uns tatsächlich im absoluten ‘Wurstkessel’!“ So entschloß sich Scheer zu einem gewagten Manöver. Er führte mit der gesamten Flotte eine „Gefechtskehrtwendung“ durch. Alle 21 Schlachtschiffe, die in einer Kiellinie von neunzehn Kilometer Länge fuhren, wendeten gleichzeitig um 180 Grad bis zur Herstellung der Kiellinie in entgegengesetzter Richtung. Die Flotte hatte praktisch den Rückwärtsgang eingelegt. 

Für Engländer war die Schlacht ein Schock

Auf den britischen Schiffen rieb man sich erstaunt die Augen. So plötzlich wie die deutsche Flotte aufgetaucht war, war sie wieder verschwunden. So verloren die Engländer in Qualm und Dunst die Fühlung mit den Deutschen. Obwohl sich die deutsche Flotte erfolgreich vom Feind gelöst hatte, entschloß sich Scheer dennoch nicht zum Rückzug. Die britische Flotte konnte nachstoßen. „Die Flotte mußte bei etwaiger Beschädigung unserer Schlußschiffe diese entweder preisgeben oder sich zu einer Handlungsweise entschließen, die unter dem Druck der feindlichen Wirkung erfolgte“ (Scheer). Da der Angriff bekanntlich die beste Verteidigung ist, entschloß sich Scheer, dem Gegner einen weiteren Schlag zu versetzen und drehte mit einer erneuten Gefechtskehrtwendung wieder auf ihn zu. 

Die deutsche Flotte fuhr also erneut und ganz bewußt in den „Wurstkessel“. Erneut sah sie sich einem geballten Granathagel ausgesetzt, ohne das Feuer mit Erfolg erwidern zu können. Hippers Flaggschiff, der Schlachtkreuzer „Lützow“, wurde dabei so schwer getroffen, daß er später aufgegeben werden mußte. Aber Scheer hatte Erfolg. Um den Torpedos der deutschen Torpedoboote ausweichen zu können, hielt Jellicoe mit der ganzen Flotte vom Feind ab und Scheer konnte sich mit einer abermaligen Gefechtskehrtwendung endgültig vom Gegner lösen.

Inzwischen war die Nacht hereingebrochen, das Gefechtsfeld wurde unübersichtlich. Es kam nur noch zu vereinzelten Gefechten, bei denen die Engländer einen Panzerkreuzer und die Deutschen ein altes Linienschiff verloren. Am folgenden Morgen des 1. Juni nahm keine der beiden Seiten das Gefecht wieder auf. Die Schlacht war nicht geschlagen, aber zu Ende.   

Gemessen an Anzahl und Kampfkraft der eingesetzten Großkampfschiffe war die Seeschlacht vor dem Skagerrak die gewaltigste der Geschichte. Gemessen am Kraftaufwand war das Ergebnis aber eher bescheiden. Die Briten verfeuerten 4.598 schwere Geschosse und erzielten 100 schwere (2,17 Prozent) und 42 leichte Treffer. Die Deutschen verschossen 3.597 schwere und 9.252 mittlere Geschosse und erzielten 120 schwere (3,3 Prozent) und 107 leichte Treffer. Die Verluste der deutschen Flotte betrugen ein Schlachtkreuzer, ein altes Linienschiff, vier kleine Kreuzer und fünf Zerstörer mit einer Tonnage von 60.747 Bruttoregistertonnen sowie 2.551 Tote und 507 Verwundete. Die Verluste der britischen Flotte beliefen sich auf drei Schlachtkreuzer, drei Panzerkreuzer und acht Zerstörer mit 114.333 Bruttoregistertonnen und 6.097 Tote, 510 Verwundete und sogar 177 Gefangene.

Die deutsche Hochseeflotte hatte damit ihre Feuertaufe bestanden. Selbstbewußtsein und Stolz auf die eigene Leistung erreichten einen Höhepunkt. Für die Engländer aber war es ein regelrechter Schock. Es war nicht nur nicht gelungen, der deutschen Flotte ein zweites Trafalgar zu bereiten, was nach englischem Empfinden allein schon einer Niederlage gleichkam. Die deutsche Flotte hatte sich zudem in taktischer Führung, artilleristischer Leistung wie der Standfestigkeit ihrer Schiffe der britischen Flotte nicht nur ebenbürtig, sondern sogar überlegen gezeigt.  

Unter dem Strich war die Schlacht ein Patt. Keine Seite hatte den Willen, sie bis zu einer Entscheidung zu führen. Vor allem veränderte sie die seestrategische Lage nicht. Nach wie vor blockierte die britische Flotte die Zugänge zur Nordsee und strangulierte den deutschen Überseehandel. Der britische Seekriegshistoriker Paul M. Kennedy schrieb dazu: „Die deutsche Flotte hat ihren Kerkermeister angegriffen, aber sie ist immer noch im Kerker.“