© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/16 / 27. Mai 2016

Der lange Weg nach Westen
Geld und Boden: Die preußische Landreform von 1816 hatte fatale Konsequenzen für die Bevölkerungsentwicklung in Ostelbien
Stefan Scheil

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Deutschland bekanntlich ein Ort wirtschaftlicher und bevölkerungspolitischer Dynamik. Ganz Deutschland? Nein, denn weit im Osten gab es, etwa in Pommern und Posen sowie West- wie Ostpreußen große Regionen, in denen vergleichsweise Stagnation und Schwund die vorherrschenden Phänomene darstellten. Der Geburtenüberschuß, soweit dort vorhanden, wanderte innerhalb Deutschlands Richtung Westen ab oder ging gleich nach Übersee. Es blieb ein Raum zurück, der auch sonst vom wirtschaftlichen Aufschwung weitgehend abgekoppelt war. 

Über die Gründe wurde schon damals verbissen gestritten. Dabei geriet regelmäßig die Deklaration des preußischen Königs vom 29. Mai 1816 ins Visier. An sich sollte sie der Bauernbefreiung dienen und war eine Spätfolge der seit 1807 laufenden Steinschen Reformen. Bauern sollten in Zukunft ein Eigentum an dem von ihnen beackerten Land erwerben können und der Boden grundsätzlich frei handelbar sein. Zum Ausgleich für den Verlust bisheriger Rechte waren dabei den Gutsherren zwischen einem Drittel und der Hälfte der Höfe abzutreten, gelegentlich konnten sie auch durch Geldzahlungen abgegolten werden.

Unbefriedigender Zustand dauerhafter Abwanderung

Die Sache war also von Anfang an kompliziert, erzeugte aber zunächst trotzdem eine damals vielbeachtete und durch die Befreiungskriege weiter befeuerte Aufbruchstimmung in den Provinzen. Endlich ein Hof, klein, aber mein, dachte sich der ostdeutsche Landwirt und neigte dazu, hier die Chance zu sehen. Die Details der schon 1811 konzipierten und schließlich erst nach jahrelangem Tauziehen veröffentlichten Deklaration schränkten seine Möglichkeiten dann aber wieder durch zahlreiche Einzelvoraussetzungen wieder ein. Hofgröße, Erbschaftsverhältnisse, Dauer der Ansässigkeit, Art der bestehenden Registrierung im Katasteramt und andere Faktoren mußten für eine Regelung berücksichtig werden. 

Die zuständigen Behörden ließen sich Zeit. Jahrzehnte gingen ins Land. Schließlich tat die Gegenrevolution nach 1849 ein übriges und setzte den Erlaß von 1816 in einer ganzen Kette von neuen Gesetzen endgültig und ausdrücklich außer Kraft. 

Über die in der Zwischenzeit erzielte Wirkung auf die Hofstruktur gab es polemische Auseinandersetzungen oder, wenn man so will, unterschiedliche Auffassungen. Für die Geschichtsschreibung realsozialistischer Prägung stand später fest, daß erst im 19. Jahrhundert das Junkertum als politischer Gegner zu seinem machtvollen Großgrundbesitz gekommen sei. Der Nationalökonom Georg Friedrich Knapp kam in den 1880er Jahren zum Ergebnis, vor allem die großen Güter hätten profitiert, während die Bauern ein Zehntel des Landes verloren hätten und Kleinbesitz faktisch ausradiert worden wäre. Das wurde von anderen angezweifelt, wobei allerdings die ihnen ermittelte Zunahme von „Kleinstellen“ sich auch auf einst freie Bauern bezog, die nun als abhängige Pächter arbeiteten. So mancher versuchte, den Zwang zum Landabtreten zudem durch Ausweichen auf bisherige Brache zu kompensieren. 

Am Ende trat jedenfalls der unbefriedigende Zustand dauerhafter Abwanderung ein, den die geltenden Regelungen für die Grund- und Bodenverteilung im damaligen Ostdeutschland wenn schon nicht verursacht hatten, so doch offensichtlich nicht verhindern konnten. Im Westen wurden höhere Löhne gezahlt, und so gingen viele dorthin, bis zu einem Ausmaß, in dem die ganze Problematik dann keine rein soziale Frage mehr darstellte, sondern ethnische Auseinandersetzungen heraufbeschwor.

Wanderarbeiter aus Polen als Ersatzarbeitskräfte

Was im Osten an Arbeit liegenblieb, übernahmen immer mehr Wanderarbeiter aus dem Zarenreich, besonders aus Russisch-Polen. Das förderte unter polnischen Intellektuellen und Politikern den Eindruck, in den innerdeutschen Wanderungsbewegungen nach Westen ein stillschweigendes Eingeständnis der grundsätzlichen Fremdheit der Deutschen östlich der Oder sehen zu dürfen. Ganz anders, aber im Ergebnis dann doch gar nicht so unterschiedlich, fiel der Kommentar der deutschen Grundeigener aus. 

Georg Graf von Kanitz, deutschkonservativer Abgeordneter für das westpreußische Marienwerder, hielt der Regierung 1890 im Reichstag in einer kämpferischen Rede eine völlig verfehlte Politik vor. Er rief in der Konsequenz zur Neubesiedlung auf: „Der Reichskanzler wird nicht nur bloß die temporäre, sondern die dauernde Niederlassung der polnischen Arbeiter gestatten müssen, er kann das Land nicht einfach sich ganz entvölkern lassen. Der Deutsche wandert nach dem Eldorado des Westens, der genügsame Slawe rückt nach.“

Daran war sicher soviel richtig: Die vor zweihundert Jahren angesetzten und damals gut gemeinten Reformen des frühen 19. Jahrhunderts hatten in Ostdeutschland danebengegriffen. An eine solche Dynamik hatte damals keiner gedacht.