© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/16 / 27. Mai 2016

Zeitung schreibt man im Präteritum
Der FAZ-Redakteur Stefan Schulz über das unvermeidliche Sterben des Print-Produktes und die trübe Zukunft der Informationskultur
Ronald Berthold

Ein paar Jahre noch – und Tageszeitungen werden völlig aus unserem Alltag verschwunden sein. Wie konnte es so weit kommen? Welche Schuld tragen die Journalisten und Verleger an dieser Entwicklung? Und welches Gesicht wird unsere Gesellschaft ohne die geordnete und ressortübergreifende Einordnung durch Redakteure haben?

In seinem klugen Buch „Redaktionsschluß“ hat Stefan Schulz das Kapitel Zeitungen bereits abgehakt. Er beantwortet für sich die Fragen nach dem „Und jetzt?“ Daher trägt der Untertitel „Die Zeit nach der Zeitung“ den folgenden Inhalt voll und ganz. Der Autor legt in anspruchsvoller Sprache eine ausgewogene Analyse vor, wie wir uns künftig – für ihn schon jetzt – über das Zeitgeschehen informieren. Um es vorwegzunehmen: Im Untergang der Tagespresse sieht der 1983 geborene frühere FAZ-Feuilletonredakteur einen Qualitätsverlust für die Allgemeinbildung und den Wegfall einer umfassenden Information.

Denn: „Glaubwürdigkeit und Relevanz, Intelligenz und Erkenntnis, das war einmal.“ Das Verschwinden der Zeitung habe – Schulz schreibt über Printprodukte in der Vergangenheit – eine Lücke in die Gesellschaft gerissen. Er beklagt den Verlust von qualifizierter Autorität, der damit einhergehe. Die politisch einseitige Ausrichtung vieler Zeitungen und die mögliche Unausgewogenheit der Leitmedien läßt der Autor bewußt außer acht. „Redaktionsschluß“ ist kein Buch, das in die Debatte über die „Lügenpresse“ gehört. Vielmehr schreibt Schulz eine versteckte Liebeserklärung an die gute alte Zeitung – mit dem gleichzeitigen Bedauern, daß nun „Gefallen und Reichweite, Instinkte und Emotionen“ unsere neuen Götter seien. Der Nachrichtenkonsum über Google News oder Facebook sei zu einseitig und zu leicht durch diese Konzerne steuerbar.

Mit Vorwürfen an Redaktionen und Verlagen spart er dennoch nicht. Selbst dort, „wo die Zeitung Leser findet, zerstört sie sich selbst“, findet er. Anstatt selbstbewußt auf Eigenständigkeit und ein informatives Gesamtkonzept zu setzen, degradiere sich „der organisierte Journalismus“ als „Zulieferer der neuen Informationssysteme“. Heißt: Er zerstückele sein eigenes Produkt, um es als einzelne Artikel vermarkten zu können. So passe es besser in die Facebook-Chronik: „Artikel werden für einen einzigen Zweck optimiert. Sie sollen sich möglichst lange in den Resonanzräumen des Internets bewähren.“

Dieses Kalkül gehe auch auf, denn im Internet erreichten die großen Zeitungen nach Studien ein zehnmal so großes Publikum wie mit ihren gedruckten Ausgaben. Doch Geld verdienten sie damit kaum. Sie gerieten, so erkennt Schulz, in einen „Teufelskreis“ aus schrumpfenden Print-Redaktionen und der Aktualitätsfalle der Online-Präsenzen. Der bis vor kurzem amtierende Vorsitzende des Deutschen JournalistenVerbandes, Michael Konken, brachte das im Branchendienst Kress auf die einfache Formel: „Wenn Print stirbt, stirbt auch Online.“ Denn Print erwirtschafte jene Mittel, mit denen Verlage ihre Internetseiten finanzierten.

Die Konzentration aufs Internet läuft anders, als es die Redaktionen erwartet haben. Statt direkt auf die Webseiten zu gehen, kommen inzwischen immer mehr Leser über Empfehlungen, die andere in sozialen Netzwerken ausgesprochen haben. Doch über kaum ein Thema hätten Journalisten so wenig nachgedacht „wie über die redaktionell kaum planbaren Leseempfehlungen des Publikums“. Die Zeitungshäuser steuerten „im Blindflug durch den Medienwandel“.

Algorithmen von Google und Facebook ausgeliefert

Hinzu komme, daß Facebook die Algorithmen, die bestimmen, was in welcher Chronik auftaucht, wöchentlich anpasse. Ergebnis: 85 Prozent derjenigen, die eine Zeitung gelikt haben, bekommen die dort publizierten Texte überhaupt nicht angezeigt. Denn das amerikanische Unternehmen filtere, so Schulz, die meisten Artikel nach fragwürdigen Relevanzkriterien heraus, bevor die Facebook-Freunde diese überhaupt zu Gesicht bekämen. Ebenfalls demoralisierend: Beim anderen bedeutenden Netzwerk Twitter klickten nur vier Prozent der Follower den verlinkten Text überhaupt an.

Wie aber können sich die Zeitungen aus dieser selbstgestellten Falle befreien? Aktuelle Nachrichten sollten die Blätter ausschließlich online publizieren und den „kostbaren Print-Platz für weiterführende, erklärende und reflektierende Lesestücke“ verwenden, fordert der Autor. Online- und Printredaktionen zusammenzulegen, sei der falsche Weg. Zahlreiche Zeitungen nutzten ihre Internetseiten vor allem als „Duplikat ihrer gedruckten Zeitung“. Folglich seien sie „online zu spät und gedruckt uninteressant“.

Bei aller Wehmut über das Ende der Zeitungen gibt sich Schulz aber nicht als romantischer Fan von Papier, auf das die Zeitung unbedingt gehöre. Im Gegenteil: Die Verlage nutzten seiner Ansicht nach die digitale Informationsinfrastruktur überhaupt nicht. Würden sie sich vom gedruckten Produkt trennen, könnten Zeitungen wie die FAZ oder die Süddeutsche Zeitung jährlich einen dreistelligen Millionenbetrag einsparen. Dieses Geld sollte in die inhaltliche Arbeit investiert werden. 2.500 Autoren könnten davon monatlich 5.000 Euro Honorar bekommen. Anders gedacht: Der Betrag reiche aus, „jedem Abonnenten einen Tabletcomputer im Wert von 750 Euro zu überreichen, auf dem er seine Zeitung künftig lesen könnte“.

Das Buch läßt seine Leser mit dem unguten Gefühl zurück, sich durch den Zeitungsverzicht den mächtigen Konzernen Google und Facebook und deren Algorithmen auszuliefern. Manipulation sei dadurch Tür und Tor geöffnet, wie Schulz am Beispiel der Unterstützung des Obama-Wahlkampfes auf beängstigende Weise darstellt. Allerdings hätte der Leser sich gewünscht, daß der Autor gerade in diesem Zusammenhang auch der gezielten Beeinflussung durch Zeitungen und deren nicht immer vorhandener Ausgewogenheit ein wenig mehr Raum gewidmet hätte.

Stefan Schulz: Redaktionsschluß. Die Zeit nach der Zeitung. Hanser-Verlag, München 2016, gebunden, 303 Seiten, 21,90 Euro