© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 22/16 / 27. Mai 2016

Lieber gelbe als rote Pampelmusen essen
Der Griff zu süßerem Obst und milderem Gemüse verdrängt nervenstärkende Pflanzengifte
Christoph Keller

Es sind nicht immer profitgierige Konzerne schuld, wenn der Verbraucher Lebensmittel konsumiert, die seinem Körper nichts nutzen oder die seine Gesundheit gefährden. Oft ist der Kunde tatsächlich König und trifft die schlechtere Wahl selbst. Etwa wenn er zur Pampelmuse mit rotem Fleisch (Flame, Jaffa Sunrise, Rio Red, Star Ruby) oder zur Brokkoli-Sorte „Packman“ greift. Hingegen sind „weiße“, bittere Grapefruits und die herbe Brokkolivariante „Atlantic“ aus dem Sortiment großer Handelsketten nahezu verschwunden, weil deren Kunden immer häufiger für süßeres Obst und milderes Gemüse optierten.

Aus ernährungswissenschaftlicher Sicht ist das problematisch. Der Gehalt an sekundären Pflanzenstoffen – an Flavonoiden in Pampelmusen, an Betacarotinen beim Brokkoli – ist bei den althergebrachten, bitter-herben Produkten deutlich höher als bei den heute beliebten Neuzüchtungen. Ein abermaliger Geschmackswandel scheint indes nicht ausgeschlossen, wenn sich herumspricht, welche Bedeutung die biochemische Forschung jenen Pflanzenstoffen einräumt, denen sich der sensible Gaumen des Zivilisationsmenschen verweigert.

Mit diesen eigentlich giftigen Substanzen, mit denen Pflanzen Freßfeinde abwehren, befassen sich Biochemiker erst seit 20 Jahren intensiver, wie der US-Neurowissenschaftler Mark Mattson, der am National Institute on Aging (NIA, Bethesda/Maryland) sowie an der Johns Hopkins University (Baltimore) über neuronale Veränderungen während des Alterns arbeitet, in seinem Überblick über aktuelle Entwicklungen ausführt (Spektrum der Wissenschaft, 4/16).

In seinen Studien fand Mattson heraus, daß Nervenzellen auf Nahrungsentzug reagieren, indem sie molekulare Abwehrmechanismen aktivieren, die sich gegen die Ablagerung von Beta-Amyloiden (den berüchtigten Peptiden im Gehirn von Alzheimer-Patienten) richten. Dabei würden auch spezielle Proteine freigesetzt, neurotrophe Faktoren, die das Überleben der Zellen begünstigen. Den Streß, der sich so vorteilhaft auf Nervenzellen auswirkte, erzeugte eine Mattson-Mitarbeiterin in einem Rattenexperiment durch Hungern. Hirnzellen von normal ernährten Ratten erwiesen sich als anfälliger gegenüber Nervengiften als die ihrer fastenden Artgenossen. Woraus Mattson die Hypothese ableitete: Häufiges Fasten schützt vor Alzheimer, Parkinson und Hirnschlag.

Kein Wundermittel und noch kein Durchbruch

Im weiteren Verlauf seiner Untersuchungen erkannte Mattson, daß auch die im Obst und Gemüse in geringfügigen Mengen enthaltenen Toxine in unseren Körperzellen leichte Streßreaktionen provozieren und dabei ihre Widerstandskraft erhöhen, ein – nach dem altgriechischen Wort für Anregung – „Hormesis“ getauftes Phänomen, dem sich inzwischen eine neurowissenschaftliche Subdisziplin widmet, die Hormesis-Forschung. „Anstoßend“ wirkende Substanzen kommen überall im Pflanzenreich vor. Darunter befinden sich Koffein und Opioide genauso wie Sulforaphan im Brokkoli. Das Galantamin in Schneeglöckchen und Osterglocken hebt bei Alzheimer-Patienten den niedrigen Acetylcholin-Spiegel und verbessert die Gedächtnisleistung.

Resveratrol in roten Trauben und im Rotwein schützt vor Hirn- und Rückenmarkschäden, Plumbagin in der Schwarznuß verbessert die Prognose bei Hirnschlag. Curcumin, das im Currypulver enthalten ist, dämmt Ablagerungen schadhafter Proteine ein, Stoffe in Knoblauch und Pfeffer, die in Nervenzellenmembranen Kanäle öffnen und Kalzium einströmen lassen, steigern die elektrische Aktivität der Neuronen und – in Tierversuchen bereits bewiesen – mildern Folgen eines Hirnschlags. Angesichts solcher Effekte sei es kein Wunder, wenn in Ländern mit ausgeprägtem Verzehr von Knoblauch und scharfem Pfeffer altersbedingte Hirnfunktionsstörungen seltener auftreten.

Das Konzept der Hormsesis, warnt Mattson, sei nun aber – ungeachtet aller optimistischer Aussichten, die es gestatte – kein Wundermittel und kein „Durchbruch“ in der Therapie neurodegenerativer Erkrankungen. Wie in der von ihm als unwissenschaftlich geschmähten Homöopathie kommt es bei der Hormesis auf die Dosis an. Bisher lasse sich nicht bestimmen, wieviel Brokkoli nötig ist, um nützliche Effekte zu zeitigen, und welche Mengen Zellen schädigen können. Wann genau eine Reaktion toxisch werde, hänge von individuellen Gegebenheiten ab, differiere mithin von Mensch zu Mensch, und erschwere es, Medikamente auf hormetischer Basis zu entwickeln. Versuche mit genetisch veränderten Tieren ließen hier aber auf „baldige Fortschritte“ hoffen.

Forschungsergebnisse von Mark Mattson: irp.nia.nih.gov

 neuroscience.jhu.edu/