© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/16 / 03. Juni 2016

Licht und Schatten liegen nahe beieinander
Mittelstand in Mitteldeutschland: Allein ein Blick auf das malerische sächsische Städtchen Meißen offenbart die Probleme einer ganzen Region
Marc Zoellner

Malerisch schlängelt sich die Elbe zwischen Meißen und Riesa durch ihr steilwandiges Tal aus tiefrotem Meißner Granit. Dichte Wälder grünen an dessen Hängen, und uralte Reben recken ihre Blätter in die Frühlingssonne. Die ältesten dieser Weinberge datieren bis in das zwölfte nachchristliche Jahrhundert zurück. Sachsen gilt damit traditionell als das kleinste Weinanbaugebiet Deutschlands und Meißen als dessen heimliche Perle. Nicht nur dank des fruchtigen Traminers, welchen schon Goethe zu schätzen wußte, der auf seinen Reisen gern und oft des Nachmittags in einer der damals unzähligen Tavernen des Meißner Marktplatzes einkehrte. 

Land- und Prädikatsweine locken auch heute wieder Hunderttausende Besucher aus aller Welt in die romantische Idylle der Meißner Altstadt. „Von Jahr zu Jahr können wir mehr Besucher begrüßen“, erzählt ein Meißner Hotelier stolz im Gespräch. „Viele sind bereits Stammgäste, andere ganz neu in der Stadt. Aber alle sind sie von Meißen begeistert.“ 

Doch wo Licht ist, finden sich bekanntlich auch Schatten – in Meißen kaum einen Steinwurf entfernt von den glitzernden Fassaden der historischen Altstadt. So wie auf der Neugasse, einer der wenigen Hauptverkehrsstraßen in der eng bebauten, beschaulichen 27.000-Einwohner-Stadt. Hier lagen einst der Schwerpunkt der Stadt sowie die zentrale Anlaufstelle für Händler und Gewerbetreibende. Neben einem großen Kinosaal, welcher allerdings schon zum Ende der DDR-Diktatur hatte schließen müssen, boten Bäcker und Fleischer, Tabak- und Elektronikhändler ihre Waren günstig zu Fuß gelegen feil. Doch knapp dreißig Jahre nach der Wende steht jedes zweite Geschäft leer, ebenso wie ein großer Teil der Wohnungen.

Die Stadtverwaltung selbst sucht die Schuld bei der gewaltigen Jahrhundertflut, die 2002 die komplette Innenstadt überrollt und unter einer Schlammlawine begraben hatte. Als im Juni 2013 eine weitere Naturkatastrophe in Form von Überschwemmungen über Meißen hereinbrach, begannen viele der Ladenbesitzer aufzugeben. Aufgrund der hohen Risiken sowie der ungünstig tiefen Lage der Neugasse zahlten die Versicherungen nur noch zaghaft. Und auch vom Sanierungsprogramm des Freistaats Sachsen konnte nicht jeder profitieren.

„Ein Schandfleck“, schimpft eine ältere Bürgerin, die, mit Einkaufsbeuteln voll bepackt, über das löchrige Kopfsteinpflaster eilt. „Die ganze Straße ist ein einziger Schandfleck.“ Worauf die Dame anspielt, ist kaum zu übersehen: Schlaglöcher und aufgerissene Asphaltbeläge, die sich über die komplette Länge der dichtbefahrenen Einbahnstraße erstrecken. Schmutzbehangene Baustellen und Durchgangstunnels, in denen der Müll sich neben wenig künstlerisch gestalteten Graffiti stapelt. Immer wieder der gleiche Anblick von gähnend leeren Fenstern, von Räumungsverkäufen und Nachmietergesuchen.

Nicht alle Händler mußten der Flut allein weichen. Daß die Stadt nur einen Häuserblock weiter mit den „Neumarkt Arkaden“ ein modernes Einkaufscenter mit eigenem Bahnhof errichten ließ, weckte Befürchtungen von erhöhtem Konkurrenzdruck durch Großhandelsketten auf der einen sowie preisdrückender Outlet-Filialen auf der anderen Seite. Befürchtungen, die schlußendlich auch eintrafen. Die verwaisten Ladengeschäfte der Neugasse, die holprige Straße sowie die leerstehenden Wohneinheiten, die mitunter ganze Häuser betreffen, legen Zeugnis ab für die verfehlte städteplanerische Politik einer Kommunalverwaltung, von der viele munkeln, sie interessiere sich nicht für ihre eigene Stadt.

„Vielleicht ist das Problem, daß unser Bürgermeister und die Mitarbeiter der Verwaltung selbst nicht in Meißen wohnen“, gibt Daniela Kuge beim Bummel durch Meißen zu bedenken. „Sie haben ihre Häuser andernorts und kaufen andernorts ein. Mit den Problemen der Stadt werden sie nur selten persönlich konfrontiert.“

Einzelhandel und Gastronomie bereiten Sorge 

Kuge weiß, wovon sie spricht. Seit 2014 vertritt die CDU-Abgeordnete und gebürtige Meißnerin ihre Stadt im Sächsischen Landtag. Ihr Büro, welches sie sich mit Bundesinnenminister Thomas de Maizière teilt, bietet einen lebendigen Panoramablick auf die Altstadt, auf Rathaus und Marktplatz. Anfang Mai, berichtet Kuge, hätten lokale Künstler und Kunsthandwerker das nunmehr zwölfte Kunstfest Meißen organisiert. Über 150 Aussteller sowie zahllose Gäste hatten sich dort bei bestem Wetter eingefunden, um zu handeln, einzukaufen sowie kreativ tätig zu sein. „Aber von der Stadt waren zur Eröffnung gerade einmal zwei Vertreter erschienen“, so Kuge. „Das finde ich peinlich, daß man sich dort oben nicht für solch tolle Events in seiner eigenen Gemeinde interessiert.“

„Unser Bürgermeister hat in einem Interview mal erzählt, er habe den tollsten Job Meißens“, pflichtet eine Boutiquebesitzerin bei. „Denn er könne jeden Tag von oben auf seine Stadt herabschauen. Uns wäre es allerdings lieber, er würde auch mal herunterkommen und durch seine Stadt laufen.“

Probleme, die es zu beheben gilt, wenn man sie nur sieht, liegen schließlich zur Genüge vor. Oftmals reichen schon kleine Innovationen, um der lokalen Wirtschaft bestandsschützende Impulse zu versetzen. Die „Perlenfischerin“ auf der Fleischergasse kann ein Lied davon singen. „Uns würde schon helfen, würden die gelben Säcke rechtzeitig vor Ladenöffnung abgeholt“, erzählt die quirlige Mittvierzigerin, während sie an einem indianischen Traumfänger bastelt. 

Denn daß Meißen direkt am Elberadweg liege und dadurch von der Dresdner Metropole aus auch bequem mit dem Drahtesel zu erreichen sei, sei an sich doch etwas Gutes. „Doch die Touristen bemerkt man ausschließlich im Zentrum“, merkt ein Bastler an, der sich als selbständiger Ballonpilot vorstellt. „Die Touristen, die Dresden besuchen, nehmen Meißen nur als Randfigur wahr. Von den Reiseveranstaltern werden sie regelrecht durch unsere Stadt geknüppelt.“

Zeit für eine ausführliche Besichtigung der Stadt, für eine Erkundung ihrer vielen verspielten Gäßchen, ihrer Bürger- und Patrizierhäuser mit den unzähligen filigranen Reliefs und Erkern bleibe da kaum – und erst recht nicht, um ausgiebig zu „shoppen“.

„Unsere Gäste loben immer wieder die hohe Konzentration an feinen Läden und Boutiquen“, schwärmt der Hotelier bei einem Glas Bier am Rande des jährlich veranstalteten Töpfermarkts. „Selbstverständlich, erzählen sie dann, gebe es die gleichen Schuhe und die gleichen Dessous auch in Hamburg zu kaufen. Aber nicht geballt auf einhundert Metern voll kleiner Geschäfte.“

Doch diese gilt es als Ortsunkundiger erst einmal zu finden – und eine ausreichende Beschilderung der Stadt wurde bislang rege vernachlässigt. „Vor Jahren noch wurde mit großen Bannern auf unseren Markt hingewiesen“, erzählt ein regionaler Töpfer, der neben Meißen auch Stände auf zwei Dutzend weiteren Märkten betreibt. „Dieses Jahr hat man uns wohl vergessen.“ Und nach den Geschäften im allgemeinen gefragt: „Die waren vor Jahren sehr viel besser. Den Leuten mangelt es mittlerweile an Kaufkraft, die haben einfach kein Geld mehr. Das Phänomen erlebe ich im gesamten Osten.“

Kleine Städte und Gemeinden wie Meißen trifft diese Entwicklung besonders hart. Immer öfter verabschieden sich alteingesessene Kunsthandwerker und Gewerbetreibende in den vorzeitigen Ruhestand, müssen seit Generationen betriebene Geschäfte schließen – oder halten sich nur knapp über Wasser, indem sie sich nebenbei als geringfügig Beschäftigte in den Einzelhandelsketten der Region verdingen.

Allein in den kommenden zwei Jahren, schätzt das Dresdner Wirtschaftsministerium, müssen über 5.300 sächsische Unternehmensführungen aus altersbedingten Gründen ihre Übergabe regeln. Nicht alle Branchen stoßen dabei auf reges Interesse des Nachwuchses. „Besonders schwer ist es, einen Nachfolger in den Branchen Einzelhandel und Gastronomie sowie Hotellerie zu finden“, erklärte eine Sprecherin der Industrie- und Handelskammer (IHK) im Interview mit den Dresdner Neuesten Nachrichten. Die Angst vor dem Scheitern schrecke potentielle Bewerber ebenso ab wie jene vor der Wachstumsfalle.

Kleine Betriebe müssen wachsen, um zu überleben 

„Trotz eindeutiger Wachstumstendenzen“, warnt Sachsens Wirtschaftsminister Martin Dulig (SPD) diesbezüglich im aktuellen Mittelstandsbericht des Freistaats Sachsen, sei „der sächsische Mittelstand mit Blick auf die mittelständische Wirtschaft in den alten Bundesländern noch immer vergleichsweise kleinteilig“. So gehörten noch immer 99,9 Prozent der rund 150.000 sächsischen Unternehmen zum Klein- und Mittelstand. 95 Prozent von diesen haben weniger als zehn angestellte Mitarbeiter; ein Wert, den sonst nur noch das ländlich geprägte Mecklenburg-Vorpommern aufweisen kann. Rund 45.000 dieser Unternehmen erwirtschafteten 2013 überdies weniger als 50.000 Euro Jahresumsatz. Die Umsatzproduktivität des hiesigen Privatgewerbes, so Dulig, liege bedenkliche 30 Prozent unter jener des westdeutschen Durchschnitts. Und die von der Umsatzsteuer befreiten Kleinstunternehmen sind in dieser Statistik noch nicht einmal mit erfaßt.

„Kleine und mittlere Unternehmen müssen wachsen“, lautet Duligs Fazit. Denn aufgrund seiner regionalen Besonderheiten biete gerade Sachsen fruchtbaren Boden für Entrepreneure sämtlicher Sparten. Jeder neunte Erwerbstätige, so das Wirtschaftsministerium, sei in Sachsen bereits als selbständig registriert. Mit dieser Quote liegt die Wirtschaftsregion zwischen Neiße und Elster zwar noch immer im ostdeutschen Hintertreffen, bundesweit jedoch schon weit über dem Durchschnitt. Woran es noch immer mangele, seien ausreichend geschulte Fachkräfte, eine dringend benötigte Kapitalzufuhr sowie infrastrukturelle wie fachliche Hilfeleistungen, um dem sächsischen Mittelstand den Anschluß an die digitalisierten Märkte einer globalisierten Welt zu erleichtern. 

Gerade letzteres wäre auch in Meißen willkommen, finden die Gewerbetreibenden der Porzellanstadt. „Das Internet übt massiven Druck auf uns aus“, bestätigt die Boutiquebesitzerin betrübt. „Dort bekommen die Leute alles billiger und bequemer.“