© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/16 / 03. Juni 2016

Die Realität ist ein unerbittlicher Lehrmeister
Konservative Grundstimmung: Der Philosoph und Soziologe Arnold Gehlen erfährt in gegenwärtigen Debatten um die AfD neue Aufmerksamkeit
Karlheinz Weißmann

Das Bild spricht für sich: eine kinderreiche Familie – dreifacher Nachwuchs, zweimal männlich, einmal weiblich, dazu der Dackel – samt Mutter und Vater, allesamt blond, sie in einem Hauskleid mit Schürze, das man vergeblich im aktuellen Kleidungsangebot sucht, den selbstgebackenen Kuchen präsentierend; er, das Repetiergewehr lässig über der Schulter, in dunkelbraunem Pullover und dunkelbrauner Hose. Gehen wir wohlwollend davon aus, daß der Zeichner das Braun eher um der Stimmigkeit gewählt hat, nicht um böswilliger Assoziationen, dann erinnert der Umschlag der Frankfurter Allgemeinen Woche (Ausgabe vom 29. April) nicht zufällig an Titelbilder der Hör Zu aus jener Zeit, als der Springer-Konzern mit dem Slogan warb, daß man seine Illustrierte unbesorgt überall herumliegen lassen könne.

Das paßt dann auch zum Thema im Innenteil des Magazins, das sich mit der Frage „Wie die AfD leben möchte“ beschäftigt. Um es kurz zu machen: Die Anhänger der AfD, hier: Ursula und Peter Müller, mögen es übersichtlich, spießig, wie in den späten Fünfzigern oder frühen Sechzigern, mit Vorbehalten gegenüber den USA, aber einer Begeisterung für den privaten Waffenbesitz, die an die Propaganda der National Rifle Association erinnert.

Der herablassende Ton, in dem Justus Bender, bei der FAZ zuständig für die regelmäßige Berichterstattung über die AfD, das Thema behandelt, ist einerseits typisch, steht andererseits im Kontrast zur wachsenden Zahl jener Artikel, in denen die Gefährlichkeit der Alternative für Deutschland nicht aus der Borniertheit ihrer Basis, sondern aus der intellektuellen Potenz ihrer „Vordenker“ abgeleitet wird.

Interessanterweise haben sich die Analysen graduell von der antifaschistischen Methode des Zitatenkonfettis entfernt und tatsächlich einer gewissen Anstrengung unterzogen, um dahinterzukommen, was jenseits von Wutbürgertum und Enttäuschung über die Kanzlerin, gemeineuropäischem Populismus und Überfremdungsfurcht hinter dem steckt, was die AfD und ihr Umfeld meinen.

Als symptomatisch kann man etwa den Text „Spirituelle Apokalypse“ von Chefredakteur Thomas Vašek in der Ausgabe 3/2016 der Zeitschrift Hohe Luft betrachten. Vašek hatte schon Anfang des Jahres darauf hingewiesen, daß sich in den Aufzeichnungen Heideggers auch eine Bemerkung über Evola finde. Der Sachverhalt ist an sich interessant, allerdings die Notiz so nichtssagend, daß Vašek genötigt war, eine umfangreiche Spekulation zu entwickeln, um die Affinität zwischen diesen beiden Denkern nachzuweisen. Tatsächlich bedurfte der Deutsche aber kaum der Anregung durch den Italiener, und beider Interessengebiete deckten sich höchstens in bezug auf die gemeinsame Frontstellung gegen alles, was marxistisch, liberal, bürgerlich oder christlich im weitesten Sinne war.

Brumlik: Schnittmengen mit linken Ansichten

Damit könnte man die Sache auf sich beruhen lassen, aber Vašek geht es natürlich darum, genau das zu vermeiden, und er stellt deshalb die Verbindung zu einem Kopf der intellektuellen Rechten in der Gegenwart her: dem Russen Alexander Dugin. Die Auffassungen über dessen geistigen Rang gehen sehr weit auseinander, aber grotesk wird es, wenn Dugin als Erbe eines „ontologischen Faschismus“ zugetraut wird, Einfluß auf „das Umfeld der AfD“ zu nehmen und deren Programmatik mitzubestimmen.

Was Vašek liefert, ist letztlich nur eine jener Komplottheorien, auf die der geistige Mittelstand gerne anspringt. So auch Micha Brumlik in der März-Nummer der Blätter für deutsche und internationale Politik. Da wird die Thematik aufgegriffen, allerdings eine Verknüpfung der Trias Heidegger-Evola-Dugin mit den rechten Basisbewegungen hergestellt. Bei der Erklärung der Gefährlichkeit macht es sich Brumlik aber nicht so einfach wie Vašek. Denn die Konjunktur der neuen rechten Ideologeme erklärt sich seiner Meinung nach aus „Schnittmengen mit linken Ansichten und Haltungen zu Kapitalismus, Globalisierung, Hegemonie der USA, Digitalisierung und Kulturindustrie“. Das bedeute auch, daß man mit herkömmlichen Mitteln der Gefahr kaum Herr werden könne. Es bleibe angesichts der „identitären“ Attacke nichts anderes, als „das linke Projekt als ein menschheitliches, universalistisches zu rekonzipieren und sich darüber klarzuwerden, daß heute, morgen und übermorgen eine linke Politik sich nicht nur um Europa, sondern um die Welt als Ganzes zu kümmern hat – der Internationalismus der Linken mithin seine Bewährung in Theorie und Praxis noch vor sich hat.“

Man staunt, daß jemand derlei ganz unironisch vorträgt, aber bevor sich Mitleid für den Verfasser breitmacht, sollte noch ein Blick auf den Ausgangspunkt von Brumliks Argumentation geworfen werden. Da heißt es nämlich, daß man eine „konservative Grundstimmung“ feststellen könne, die der Verbreitung von Gedankengängen den Boden bereite, die seit mehr als vier Jahrzehnten kaum Aussicht auf Resonanz hatten. Wäre Brumlik im folgenden nicht auf Abwege geraten, hätte er sich auf eine geistesgeschichtliche Fährte setzen können, die wesentlich eher zum Schuß führt.

Gemeint ist damit die neue Aufmerksamkeit für den „Denkmeister der Konservativen“ (Armin Mohler): den Philosophen und Soziologen Arnold Gehlen. Ein aller Sympathien für rechte Positionen ganz unverdächtiger Mann wie Mark Siemons hat vom missing link gesprochen, das helfe, die Sprachlosigkeit angesichts der gegenwärtigen Lage wenn nicht zu überwinden, dann aber doch deren Ursache zu begreifen („Hyper! Moral!“, FAZ vom 27. Januar).

Habermas fürchtete Gehlens „Breitenglaubwürdigkeit“

Die Einsicht war ihm allerdings nicht von selbst gekommen, sondern auf dem Umweg über die Lektüre der Ausgabe 2015/2016 von Tumult, jener „Vierteljahresschrift für Konsensstörung“, die Querdenken nicht als Ausflucht, sondern ernst nimmt. In seinem Editorial schreibt der Herausgeber Frank Böckelmann angesichts des „Refugees welcome“-Taumels: „Viele Deutsche hat die fortgesetzte Mahnung an jene einen zwölf Jahre in ihrer Vorgeschichte geschichtslos gemacht. Geschichtslos, gesichtslos, bodenlos, positionslos.“ „Hypermoralisierung“ führe aber nicht nur zu Geschichtsvergessenheit, sondern auch dahin, daß es überhaupt keine Vorstellung mehr davon gebe, was eigentlich „politisch“ sei.

Die Verstörung, die der Rekurs auf Gehlen bedeutet, ist nicht so leicht abzutun wie die Beschäftigung mit einzelnen eher esoterischen Denkern. Man kann das an zwei weiteren Reaktionen in der meinungsbildenden Presse ablesen: einem Artikel von Christian Geyer in der Frankfurter Allgemeinen, der einfach erklärt, daß dieser „brillante Denker“ selbstverständlich gar nichts mit AfD und Konsorten zu tun habe, und einem – sechs Druckseiten umfassenden – Essay von Romain Leick im Spiegel („Das Reich der Lüge“, 16. April), dessen Position erkennbar schwankt zwischen dem Wunsch, zu den Guten, den Freunden der „Offenen Gesellschaft“ und des Fortschritts zu gehören, und der besseren Einsicht, daß die Realität ein unerbittlicher Zuchtmeister ist und Gehlen nichts anderes getan hat, als dieser Tatsache wieder und wieder Gehör zu verschaffen. Was dann eben auch heißt, daß der „reaktionäre Konservative“ das Wesen des Staates besser verstanden hatte als seine erfolgreichen Kontrahenten: „Nicht nur der starke Staat, der seine Macht gebraucht, ist gefährlich“, heißt es bei Leick, „der schwache, der das Schutzbedürfnis seiner Bürger, ob in der Realität oder in der Einbildung, nicht mehr befriedigt, ganz gleich ob er es nicht kann oder nicht will, ist es nicht minder.“

Jürgen Habermas, der Intimfeind Gehlens, hat immer gefürchtet, daß dessen Argumentation irgendwann „Breitenglaubwürdigkeit“ erlangen könnte. Das natürlich nicht auf direktem Weg, aber in gekonnter Übersetzung, so gefaßt, daß der Mann auf der Straße seine eigene alltägliche Erfahrung auf den Begriff bringen kann. Diese alltägliche Erfahrung, vom Verfall der inneren Sicherheit bis zur Weltfremdheit der Gemeinplätze, von der Unwirtlichkeit versiffter Stadtteile bis zum Verfall der Leistungsbereitschaft, ist heute die wichtigste Voraussetzung für einen echten politischen Umschwung. Aber ganz ohne die von Gehlen wenig geschätzten „Mundwerksburschen“ wird es auch nicht gehen.