© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/16 / 03. Juni 2016

Mehr Licht!
Vor 75 Jahren starb Kaiser Wilhelm II. in seinem holländischen Exil / Über die Notwendigkeit einer historischen Neubewertung des Monarchen
Eberhard Straub

Im November 1918 verschwand die Monarchie, ohne daß sie verteidigt wurde. Die Könige und Fürsten zogen sich überstürzt ins Privatleben zurück, als wären sie Usurpatoren und nicht Erben von Dynastien, die während vieler Jahrhunderte meist gar nicht schlecht regiert hatten. 

Das überrascht, weil der deutsche Patriotismus unmittelbar mit der Treue zum jeweils angestammten Herrscherhaus zusammenhing. Noch mitten im Kriege würdigten ununterbrochen Politiker, Historiker oder Philosophen die Überlegenheit der deutschen konstitutionellen Monarchie im Vergleich mit dem französischen oder britischen Parlamentarismus. Dieser sei nur Ausdruck des bürgerlichen Kapitalismus, der den Staat für seine Klasseninteressen ausbeute. Wohingegen gerade die deutsche  als soziale Monarchie über der immer beweglichen Gesellschaft stehe und ordnend in die Antagonismen der gesellschaftlichen Kräfte eingreife.  

Dennoch gab es nach der Niederlage und der Proklamation der Republik kein Heimweh nach der Monarchie. Die Beerdigungen der Kaiserin Auguste Viktoria 1921 in Potsdam und die König Ludwigs III. von Bayern in München nahmen viele zum Anlaß, ihre Verbundenheit mit der Dynastie zu bekunden, ohne damit aber politisch-restaurative Absichten demonstrativ zu verknüpfen. Die Republik brauchte sich vor Monarchisten nicht zu schützen, sie waren ungefährlich. Sie schlüpften gelegentlich in alte Uniformen, um den Zusammenhang mit dem jeweiligen Herkommen zu wahren, aber nicht in der Hoffnung auf eine schönere Zukunft im Glanz erneuerter Kronen. Als Ersatzkaiser wirkte der Feldmarschall und ab 1925 Reichspräsident Paul von Hindenburg, der wegen seines Alters trotz der Niederlage und der Umbrüche nationale Kontinuität bis zurück in die Zeit vor der Reichsgründung verkörperte. Der Sieger von Tannenberg hatte schon im Kriege Kaiser Wilhelm als Symbol des kämpfenden Deutschland und als wahrer Volksheld überholt. Sein fast mythisch verklärtes Führertum, eine revolutionäre Erscheinung, überstrahlte die legitime Majestät, die Würde der Krone. Insofern wurde nach dem November 1918 der Kaiser nicht sonderlich vermißt. 

Den unter sich zerstrittenen Deutschen konnte allerdings der Kaiser im holländischen Exil nicht völlig gleichgültig bleiben, da die Alliierten ihm als Kriegsverbrecher, der schuld an  allen Gebrechen sei, die die Welt seit 1914 bedrückten, den Prozeß machen wollten. Sie wollten mit der Anklage des autokratischen Kaisers, der die Welt in einen schrecklichen Krieg gestürzt habe, des Repräsentanten aller Deutschen, die Deutschen insgesamt als ein Volk von Militaristen, die nichts von Humanität und der internationalen Moral verstünden, vor aller Welt zur Rechenschaft ziehen. 

Frühere Paladine arbeiteten sich an ihrem Kaiser ab

Diese für Europäer höchst ungewöhnliche Anschuldigung empörte nahezu sämtliche Deutsche. Die Königin Wilhelmina der Niederlande weigerte sich, den Kaiser, der als Flüchtling im neutralen Land Schutz gesucht hatte, an die siegreichen Vertreter einer vorerst ganz unbestimmten „internationalen Moral“ auszuliefern. Es kam zu keinem ersten Kriegsverbrecherprozeß in der europäischen Geschichte mit dem Kaiser als Repräsentanten der alleinigen  Kriegsschuld der Deutschen.

Die Diskriminierung des Kaisers, selbst wenn die Mehrheiten der Deutschen sie ablehnte, hatte freilich zur Folge, daß sich die ehemaligen Stützen der alten Gesellschaft, die sogleich nach dem Umsturz ihre Erinnerungen veröffentlichten, bemühten, jeden Verdacht einer besonderen Nähe zum Monarchen auszuräumen. Sie beeilten sich, zu beteuern, wie schwierig der Umgang mit dem leichtfertigen, eitlen, in alle Geschäftsbereiche willkürlich eingreifenden König und Kaiser gewesen sei. Sie dienten ihm lange, nicht um Vorteile für sich zu erreichen, sondern um Schlimmstes zu verhindern. 

Die meisten dieser Memoiren, ob von Bethmann Hollweg, Tirpitz oder Bülow, gerieten rasch in Vergessenheit. Nicht so der erst 1919 erschienene dritte Band von „Bismarcks Gedanken und Erinnerungen“. Der Bismarckkult des Reichsgründers erreichte unter den besiegten Deutschen einen neuen Höhepunkt. Das Werk dieses „Titanen“ hätten schwächliche Nachfolger gefährdet. Bismarck deutete unumwunden an, wer in den Untergang führen würde: der Kaiser, der ihn entlassen hatte.  

Der verbitterte alte Mann, der auch in früheren Zeiten keine Scheu vor schrecklichen Gemeinheiten kannte, wenn es darum ging, jemanden zu erledigen, drückte gänzlich rücksichtslos  seine leidenschaftliche Abneigung gegen den 1890 jungen Mann aus, der ihn verraten und damit jedes Recht auf Achtung verloren hatte. Sein Bild des Kaisers hat sich bis heute erhalten: ein oberflächlicher Egoist, hemmungslos triebhaft und unfähig zu ernster Arbeit, roh, taktlos, vorlaut, dabei ehrgeizig, voller despotischer Allüren, umgeben von Schmeichlern, karrieresüchtigen Militärs ohne politische Einsichten, befangen in Illusionen, um populär zu werden, gleichsam der erste Populist unter den Monarchen. 

Bismarck erhob als erster den Vorwurf, der Monarch habe unverhohlen von Anfang an nach einem persönlichen Regiment gestrebt. Ein erstaunlicher Vorwurf, denn Bismarck selber wollte gar nicht, daß ein preußischer König zur Unterschreibungsmaschine wie die englische Königin würde. Daran hinderte ihn schon König und Kaiser Wilhelm I., ein Monarch der alten Schule, der tatsächlich regierte, nicht nur herrschte, womit Bismarck stets rechnen mußte. 

Bismarck konnte es im übrigen nie vergessen, daß die preußischen Minister, die Parlamentarier, ja weite Kreise unter den Deutschen seinen Sturz erleichtert hinnahmen oder in ihn verwickelt waren. Der Kaiser war demgemäß der typische Vertreter einer neuen Generation, die mit ihm alle seine Schwächen und Unzulänglichkeiten teilte. Er war für Bismarck im Wortsinne der deutsche Kaiser, eben der typische Deutsche. 

In diesem Sinne schrieb Emil Ludwig, ein „Bismarckdeutscher“, seine Biographie über Wilhelm II., die 1925 erschien. In Anlehnung an Heinrich Manns Roman „Der Untertan“, 1918 vollständig veröffentlicht, widmete er seine Lebensbeschreibung des Kaisers eben diesen Untertanen, also den Deutschen, die als Kollektiv ihrem höchsten Herrn widerspruchslos dienten und die liberale Reifeprüfung nicht bestanden hatten. Sie empörten sich nicht gegen diesen Schauspieler, der seiner Rolle nicht gewachsen war, und genossen vielmehr die Wonnen der Gewöhnlichkeit, die der Obrigkeitsstaat ihnen für den blinden Gehorsam als Dank gewährte. Vorlaut und arrogant, wie ihr Kaiser, griffen sie in die weite Welt hinaus, um sie sich untertan zu machen. 

Ein Volk von Untertanen greift nach der Weltmacht und stürzt unvermeidlich in die Katastrophe. Wilhelm II., der Kaiser von Untertanen, ist gleichsam der oberste Untertan, ein Prahler, ein Sprücheklopfer, die Inkarnation des deutschen Spießers. Selbstverständlich fiel Emil Ludwig vor dem Krieg nicht als nationaler Bilderstürmer auf. Er hat 1916 die Kriegsabenteuer der Schlachtkreuzer Goeben und Breslau in keineswegs kritischer Distanz zum Volk der Untertanen und seiner, der deutschen Flotte geschildert, zu deren Ehren sich zahllose Gaststätten mit zahllosen Stammtischen benannten. 

Alle negativen Klischees, bis heute verbreitet, waren in den zwanziger Jahren geprägt worden, oftmals von solchen, die früher ganz anders über den Kaiser geurteilt hatten. Ein Höfling wie Harry Graf Kessler, der als junger Offizier viel auf dem Schloß tanzte und für Kaiser und Reich schwärmte, konnte 1928 keinen sympathischen Zug, der vielleicht zu Nachsicht oder gar Mitleid auffordern würde, an diesem ganz und gar verächtlichen Mann finden. 

Der britische Historiker John C. G. Röhl, der es zu seinem Lebenswerk  machte, das Bild des durch und durch verächtlichen Kaiser-Darstellers so abschreckend wie möglich zu monumentalisieren, fand schon fast alles vor, um diese lächerliche Mißgestalt als eine moderne Variante von Caligula und Nero, den angeblich dem Cäsarenwahn verfallenen römischen Despoten, vorzustellen. Er brauchte nach dem Zweiten Weltkrieg und nach Hitler nur den Verursacher des Ersten Weltkrieges zum Vorläufer Hitlers zu stilisieren, um damit die unmittelbare Verbindung von Bismarck zu Hitler und einen ununterbrochenen, schrecklichen Sonderweg der Deutschen herzustellen. Die Unzulänglichkeiten des Kaisers korrespondieren mit den Schwächen einer kaum liberalisierten, undemokratischen, noch immer feudalen Gesellschaft, die eben nur halb modernisiert war und sich deshalb in der Moderne nicht zurechtfinden konnte. 

Dämonisierung Wilhelms als geschichtspolitische Maxime

Das Gegenbild dazu sieht er in der um ihre Rechte gebrachten liberalen Generation, die durch den Tod Friedrichs III., des Vaters Wilhelms II., nicht zum Zuge kam, mit ihren Plänen, Deutschland zu verwestlichen. Solche Konstruktionen sind historisch fragwürdig. Es gibt vor allem unter Briten von Geoff Ely, David Blackbourn bis zu Brendan Simms und dem Neuseeländer Christopher Clark Historiker, die für Korrekturen sorgen. Doch John C. G. Röhls Dämonisierung Wilhelms II. und der Epoche des Wilhelminismus hat es vor allem mit westdeutscher Geschichtspolitik zu tun. 

Darauf beruhte gerade in der Bundesrepublik ihr Erfolg. Zur westdeutschen Ideologie gehört es, daß die Umwege und Irrwege deutscher Geschichte nach allen Katastrophen dennoch zu einem guten Ende fanden, in der Bundesrepublik, dem von allen deutschen Übeln erlösten Deutschland als Westdeutschland. Diese Überzeugung vom glücklichen Ende der Geschichte braucht verschiedene Manifestationen von Dunkeldeutschland als dauernde Mahnung. Eben auch Wilhelm II. und den Wilhelminismus.