© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/16 / 03. Juni 2016

Ein selten gewordener Glaube an die Autonomie der Wissenschaft
Naturwissenschaft im Dienste der Ideologie: Die „Deutsche Physik“ als vermeintliche Ausnahme von der Regel
Dirk Glaser

Das in der Wissenschaftsgeschichte kurze, von kuriosen Zügen nicht freie Kapitel „Deutsche Physik“ gilt als „ausgeforscht“. Der von den Physikern Philipp Lenard (Nobelpreis 1905) und Johannes Stark (Nobelpreis 1919) unternommene Versuch, eine strikt auf Erfahrung und Experiment begrenzte Naturforschung als Alternative zu „theoretischen“, „abstrakten“ und somit als eigentümlich „jüdisch“ stigmatisierten naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zu etablieren, stieß schon bei den allermeisten zeitgenössischen Fachkollegen kaum auf Resonanz. 

Die „Deutsche Physik“ verlor selbst nach 1933, trotz verbesserter hochschulpolitischer Resonanzbedingungen, nicht das Odium des Sektierertums und hatte sich, nachdem eine von SS-Instanzen ausgehende Diffamierungskampagne gegen den „weißen Juden“ und „Theoretiker“ Werner Heisenberg versandet war, mit Ausbruch des Krieges 1939 endgültig erledigt, da man nicht nur im Heereswaffenamt wußte, daß weder die geplante militärische Nutzung der Raketentechnik noch die der Kernenergie ohne die auf Albert Einsteins vermeintlich „jüdischer“ Relativitätstheorie basierende moderne Atomphysik ins Werk zu setzen war.

Johannes Stark, 1934 zum Präsidenten der Deutschen Forschungsgemeinschaft aufgestiegen, doch 1936 von diesem wissenschaftspolitisch einflußreichen Posten wieder entfernt, starb 1957 vergessen im oberbayerischen Traunstein. Dort ganz in der Nähe arbeitete der freiberufliche, 2015 mit einer „Geschichte der Sklaverei“ hervorgetretene Historiker Martin Schneider bis 2014 als Programm-Manager der Volkshochschule Traunreut. Offensichtlich also heimatkundlich inspiriert, begann Schneider, sich mit Stark und der „Deutschen Physik“ zu beschäftigen. Resultat ist ein umfangreicher Aufsatz, der jetzt an prominenter Stelle, empfohlen durch ein ausführliches Geleitwort des Herausgebers, des Zoologen Klaus Rehfeld, in der Naturwissenschaftlichen Rundschau (Heft 3/2016) erschienen ist.

Ungeachtet der großen Aufmachung des Beitrages, kann Schneider Neues zum Thema nicht mitteilen. Vielfach fällt er sogar hinter den Forschungsstand zurück, da er die polykratischen Strukturen der NS-Hochschul- und Wissenschaftspolitik nicht überschaut und daher die tatsächlich schwache Machtposition der „deutschen“ Physiker verkennt. So glaubt er etwa, Alfred Rosenbergs im reichsweiten Berufungsgeschäft oft höchst erfolgreiches „Amt Wissenschaft“ habe nur an der Universität Halle „größere Bedeutung“ erlangt, oder er kolportiert Anekdoten über den „absoluten Hohlkopf“ (Joseph Goebbels) Bernhard Rust, den Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung. Verzeichnungen, die ein Klischeebild vom Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik während der NS-Zeit ergeben, das spätestens seit den 1980ern Jahren historiographisch außer Kraft gesetzt worden ist. 

Instrumentalisierung von Wissenschaft eher die Norm

Schneiders Hauptthese, festgemacht an den Karrieren und weltanschaulichen Positionen von Lenard und Stark, behauptet eine nur im NS-Staat mögliche Ideologisierung von Wissenschaft sowie deren Indienstnahme für die „Macht“. Auch Rehfeld möchte dem Leser weismachen, zur exemplarischen „schuldhaften Verstrickung“ beider Deutsch-Physiker habe es allein im Dritten Reich kommen können. Aber selbst in dieser Zeit, so Rehfeld, widerstand das „Gemeinschaftsunternehmen Wissenschaft insgesamt ideologischen Verführungen“. 

Schneider und Rehfeld legen damit einen inzwischen selten gewordenen naiven Glauben an die „Autonomie“ der Wissenschaft an den Tag. Denn vor 1933 und nach 1945, in und außerhalb Deutschlands, ist die weltanschauliche Konditionierung und die Instrumentalisierung von Wissenschaft die Norm, was allein die Existenz vieler Lehrstühle der Pseudowissenschaft Gender Studies dokumentiert, so daß die „Deutsche Physik“ vielleicht ein Extremfall, aber keineswegs nur eine „unwürdige Episode“ (Rehfeld) der Wissenschaftsgeschichte darstellt.