© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/16 / 03. Juni 2016

Ein vereintes Deutschland war für Sowjets schon lange kein Tabu mehr
Der frühere BND-Chef Hans-Georg Wieck präsentiert seine Aufzeichnungen aus der Zeit vor der Wiedervereinigung 1990
Friedrich-Wilhelm Schlomann

Das Buch „Markierungen und Reflexionen“ beinhaltet keine Darstellung unseres Bundesnachrichtendienstes (BND), sondern Hans-Georg Wiecks Aufzeichnungen, Artikel und Vorträge während der deutschen Teilung. Es ist geschrieben aus seiner Sicht als bundesdeutscher Botschafter in Moskau (1977–1980) sowie späterer Leiter des BND (1985–1990), wobei ebenso die Gedankenwelt der sowjetischen Führung, die Vorstellungen in Bonn sowie der Westalliierten und gerade auch der Menschen in der DDR hervorgehoben werden. Manche Leser werten sein neues Werk gewiß als Antwort auf dümmliche Propagandafloskeln von heute, die Ereignisse von 1989 seien „nicht vorhersehbar“ gewesen.

Im krassen Gegensatz zum westdeutschen Denken skizzierte Wieck Ende 1980 in einem Vortrag vor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik die UdSSR mit den Worten: „Ein lebender Organismus befand sich im Prozeß der Versteinerung.“ Als erster Deutscher erklärte er bereits damals, „daß die Sowjetunion zu dem Ergebnis kommen könne, daß ihre Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen besser mit einem nach dem Vorbild der Bundesrepublik Deutschland vereinigten Deutschland gewahrt werden könnten als mit einer mit Gewalt aufrechterhaltenen sowjetischen Vorherrschaft über Mitteleuropa“. 

Bereits Andropow leitete die politischen Reformen ein

Bereits im Nato-Brief 2/1984 betonte der Verfasser, die DDR werde zunehmend zur Belastung Moskaus bei gleichzeitig abnehmendem Wert als militärische Sicherheitszone. Aufgrund einer nüchternen Analyse seines Landes hatte schon Generalsekretär Juri Andropow dem KPdSU-Politbüro eine Reformpolitik vorgeschlagen, Gorbatschow war lediglich sein politisches Ziehkind. Während Wieck als wohl einziger im Westen angesichts der Gegebenheiten an dessen Reformpolitik ab 1985 glaubte, befürchteten die Westmächte lange eine Wiederkehr des Moskauer Expansionskurses. Nur ein Jahr später meldete der Bundesnachrichtendienst, der Kreml habe die als Breschnew-Doktrin bekannte Interventionsstrategie aufgegeben. Damit hatte Ost-Berlin nicht mehr den Schutz der Sowjetarmee, womit letztlich sein Schicksal besiegelt war. 

Der Bau der Berliner Mauer habe sogar den Willen der DDR-Bevölkerung zur Wiedervereinigung verstärkt, „weil allein diese die Gefängnissituation beseitigen könnte“. Das Thema blieb „immer an der Spitze der Fragen“, auch wenn man diese nicht in Kürze erwartete, in der Bundesrepublik dagegen wurde laut Wieck die Frage „fast zu einem Tabu“, sie „stellte auf die grundsätzliche Stabilität des DDR-Regimes ab“ und beschränkte sich auf menschliche Erleichterungen; die SPD akzeptiere sogar die deutsche Teilung „auf längere Zeit“. 

Auf die Frage, ob der Mauerbau nach allen vorangegangenen BND-Warnungen hätte verhindert werden können, gibt der einstige Präsident keine direkte Antwort, was indes für sich spricht. Vieles wurde hingenommen, was „mit dem Viermächtestatus der Stadt als unvereinbar angesehen werden mußte“.

Auf die Demonstration in Leipzig am 9. Oktober 1989 kam eine Anfrage vom Bundeskanzleramt, ob es sich um westdeutsche NPD-Propagandisten gehandelt hätte. Benutzte Bonn bei seinen „Berichten zur Lage der Nation“ bis 1969 BND-Analysen, stützte es sich später sogar auf offizielle Angaben Ost-Berlins, nach denen die DDR die „zehntstärkste Industrienation der Welt“ war. Genauso weltfremd ist die These, die Einheit sei durch die „Männerfreundschaft“ zweier Staatsmänner gekommen. In seiner Loyalität verliert Wieck kein Wort über den damaligen Leiter der Ständigen Vertretung Hans Otto Bräutigam, der in seiner starken Selbstüberschätzung noch Anfang November 1989 in der Uno verkündete, die Sowjetunion werde „niemals ihre Deutschland-Politik ändern“. Der Leser spürt indes die zunehmende Verbitterung des BND-Präsidenten, der am 7. November dann überaus deutlich das baldige Ende des SED-Regime ankündigte! Nur zwei Tage später fiel die Mauer. Paris und London „versuchten vergeblich, den Prozeß durch Verhandlungen in die Länge zu ziehen“. Die Einheit war jedoch nicht mehr aufzuhalten.

Hans-Georg Wieck: Markierungen und Reflexionen. Band 1: Die Deutsche Frage. Books on Demand, Norderstedt 2016, gebunden, 326 Seiten, 26,90 Euro