© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 23/16 / 03. Juni 2016

Gesunder Menschenverstand
Thorsten Thaler

Die Schimpfkanonade hinter der geschlossenen Tür des Chefzimmers ist weithin hörbar. „Du blöder A...“, schallt es über den Flur im 2. Stock des Axel-Springer-Verlages, gefolgt von weiteren Verbalinjurien und Kraftausdrücken, die meisten davon aus dem Tierreich entlehnt. Ein Kollege, der zufällig an dem Büro vorbeigeht, erschrickt. Was ist da los? Neugierig geht er ins Vorzimmer und fragt die Sekretärin, welchen armen Teufel der Chef denn wohl gerade zur Schnecke mache. „Ach“, sagt die Vorzimmerdame, „er schimpft sich selbst aus. Das macht er manchmal, wenn er sich in die Sackgasse geschrieben hat und die Zeit drängt. Der Chef vom Dienst sitzt ihm mal wieder ihm Nacken, er hat schon zweimal angerufen und gefragt, wo sein Text bleibt.“ 

Die glaubhaft überlieferte Begebenheit handelt von Günter Zehm, und sie liegt vier Jahrzehnte zurück. Damals war Zehm Feuilletonchef der Welt und Leiter der literarischen Beilage Geistige Welt. Die Anekdote erhellt eine Charaktereigenschaft, die sich bei dem Autor und Kolumnisten Zehm bis heute erhalten hat. Er kann rasch auf hundertachtzig sein, wenn er etwas als Zumutung empfindet oder ihm eine Sache gegen den Strich geht. Zehm könne auf Leute, die ihn nicht gut kennen, zuweilen sehr grimmig wirken, sagt eine ehemalige Kollegin über ihn, im Grunde sei er aber ein „herzensguter Kerl“.

Auf die Palme bringen Günter Zehm vor allem Äußerungen, Handlungen oder Zustände, die dem gesunden Menschenverstand zuwiderlaufen. Wer sich an ihm versündigt, muß mit entschiedenem Widerspruch rechnen. Gesunder Menschenverstand, englisch common sense, französisch bon sens: für Zehm ein Schlüsselbegriff seines publizistischen Œuvres und – geschult an den Klassikern seiner Zunft – der Maßstab seines philosophischen Denkens. Nach Immanuel Kant ist er geprägt von drei Maximen. Erstens: Selbstdenken; zweitens: An der Stelle jedes andern denken; drittens: Jederzeit mit sich selbst einstimmig denken. In seiner „Kritik der Urteilskraft“ erläutert der Königsberger Philosoph: „Die erste ist die Maxime der vorurteilfreien, die zweite der erweiterten, die dritte der konsequenten Denkungsart.“

Es ist gewiß kein Zufall, daß Günter Zehm seine erste Vorlesung nach der deutschen Wiedervereinigung an der Universität Jena Anfang der neunziger Jahre dem gesunden Menschenverstand gewidmet hat. Sie sollte den Studenten zeigen, wie der common sense sich „gerade in historischen und existentiellen Krisensituationen bewährt und wie er denen, die auf ihn vertrauen, Halt gibt und Genugtuung verschafft“.

 Dabei philosophiert (und schreibt) Zehm nie von der hohen Zinne aus. Stets drückt er sich verständlich aus, klar und präzise. Geraune, Schwurbeleien oder Schwatzhaftigkeit sind nicht sein Metier. Er hockt nicht im Elfenbeinturm, errichtet keine Theoriegebäude, ist ganz den konkreten Lebensphänomenen zugewandt. Der gesunde Menschenverstand ist für ihn eine „brauchbare Methode des Aushaltens und des Sichzurechtfindens in der modernen Welt“, wie er 1988 im Vorwort zu einer Buchsammlung seiner Pankraz-Kolumnen festhielt. Die erschienen damals noch wöchentlich jeden Montag in der Tageszeitung Die Welt. Dort hatte er nach einer dreieinhalbjährigen Haftzeit in der DDR wegen „Boykotthetze“, der anschließenden Flucht über Berlin in den Westen und einer Promotion in Frankfurt am Main bei Theodor W. Adorno und Carlo Schmid 1963 als Feuilletonredakteur angeheuert. In den späten sechziger und dann vor allem siebziger Jahren gehörte Zehm neben Wilfried Hertz-Eichenrode, William S. Schlamm, Matthias Walden, Enno von Loewenstern und Herbert Kremp zu jenen konservativ und national gesinnten Journalisten, die sich der gesellschaftsverändernden Kulturrevolution der Achtundsechziger-Bewegung entgegenstemmten. 1970 erhielt Günter Zehm den renommierten Theodor-Wolff-Preis.

Ins Leben gehoben hat Zehm seine Pankraz-Kolumne bereits im Juni 1975; benannt hat er sein Alter ego nach einer Figur aus der ersten Erzählung von Gottfried Kellers Novellenzyklus über die Leute von Seldwyla. Darin überwindet Pankraz der Schmoller sein Schmollwesen und findet fortan Gelegenheit, „mit seinen Erfahrungen und Kenntnissen ein dem Lande nützlicher Mann zu sein und zu bleiben“, wie es bei dem Schweizer Dichter Keller heißt. In der ersten Bündelung seiner Kolumnen in Buchform, erschienen 1981, hat Günter Zehm in einem Vorwort über seinen Ehrgeiz Auskunft gegeben: Er wolle Tendenzen aufstöbern, anschaulich machen und auf den Begriff bringen, ohne dabei freilich die Vielfalt des Lebens über „den Leisten irgendeiner vorgegebenen grauen Theorie“ zu schlagen. Gerade in den bunten Einzelheiten, die sich gegen vorschnelle Verallgemeinerung sperren, sieht er „einen Schlüssel zu neuen Einsichten“.

Seit seiner Ausmusterung beim Axel-Springer-Verlag im Zuge von Kontroversen um die redaktionelle Blattlinie der Welt und einem Intermezzo beim Rheinischen Merkur (1990 bis 1994) veröffentlicht Zehm seine Kolumne seit Januar 1995 Woche für Woche in der Jungen Freiheit. Längst darf Pankraz als berühmte Institution in der Presselandschaft hierzulande gelten. Als Kolumne eines einzelnen Autors mit über vierzig Jahren Laufzeit hat sich ihr Verfasser Günter Zehm in der deutschen Zeitungsgeschichte verewigt.






Günter Zehm, Jahrgang 1933, Schüler und Assistent von Ernst Bloch, DDR-Haft, promoviert bei Theodor W. Adorno und Carlo Schmid, Honorarprofessor für Philosophie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, von 1963 bis 1989 Feuilletonredakteur der Welt, Autor der Pankraz-Kolumne, seit 1995 bei der Jungen Freiheit