© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/16 / 10. Juni 2016

Es gibt immer einen Weg
Wessen Asylbegehren abgelehnt wurde, muß noch lange nicht gehen: Folgeantrag stellen, heiraten oder untertauchen sind auch Optionen
Michael Paulwitz

Millionen Menschen sind in den vergangenen Jahren illegal nach Deutschland eingereist. Der Zustrom hält weiter an. Kaum einer muß das Land wieder verlassen: Lediglich 22.369 Abschiebungen wurden 2015 nach Angaben der Bundesregierung vollzogen, mit 27.000 rechnet der Bundesinnenminister im laufenden Jahr. 

Weitere 37.200 sollen im Vorjahr „freiwillig ausgereist“ sein, 2016 soll sich die Zahl auf 61.000 erhöhen. Das entspricht gerade einmal der Zahl der Neuanträge in einem einzigen Monat seit Jahresbeginn. Von 124.419 in den vergangenen beiden Jahren rechtskräftig Abgelehnten hat nur die Hälfte – 63.077 – Deutschland registriert verlassen. Bund und Länder schieben sich dafür gegenseitig die Verantwortung zu. Aber warum tut Deutschland sich so schwer, geltendes Aufenthaltsrecht auch durchzusetzen?

l 1. Das Asylrecht als „Sesam, öffne dich!“

Das Asylverfahren ist für Millionen von Immigranten der Schlüssel zum dauerhaften Aufenthalt in Deutschland. Wer als illegaler Einwanderer nach Deutschland kommt, stellt in der Regel erst einmal einen Asylantrag. Der ist zwar fast immer unberechtigt, da Artikel 16a des Grundgesetzes den Asylanspruch von Personen, die über sichere Drittstaaten eingereist sind, ausschließt.

Da aber das deutsche Asylrecht, anders als in den meisten westlichen Staaten, ein individuell einklagbares Grundrecht ist, muß jeder Antrag in einem aufwendigen Verfahren geprüft werden, das den Aufenthalt auf jeden Fall für die ersten Monate sichert. Die Benennung bestimmter Länder als „sichere Herkunftsstaaten“ ermöglicht zwar beschleunigte Verfahren, aufgrund der schieren Masse fehlt es aber noch immer an Entscheidern.

Nur einem Bruchteil der Antragsteller wird tatsächlich Asyl als politisch Verfolgte gewährt. Fast die Hälfte der Antragsteller erhält gegenwärtig aber den fast ebenbürtigen Aufenthaltsstatus als „Flüchtling“ im Sinne der Genfer Konvention. Wer syrische oder irakische Papiere vorlegte, erhielt diesen Status zuletzt pauschal und ohne Verfolgungsprüfung im Einzelfall.

l 2. Mit der Ablehnung des Asylantrags ist der Aufenthalt noch lange nicht zu Ende

Wenn der Erstantrag abgelehnt wurde, kann ein Folgeantrag gestellt werden. Dazu muß eine gravierende Änderung der Sach- oder Rechtslage gegenüber dem Erstverfahren geltend gemacht werden. Der Asylbewerber kann sich zum Beispiel in Deutschland einer in seiner Heimat verfolgten religiösen Minderheit oder politischen Gruppe angeschlossen, nachträglich eine schwere „Traumatisierung“ entwickelt oder seine Homosexualität entdeckt haben. Wem selbst nichts einfällt, dem hilft im Zweifelsfall ein dichtes Netzwerk ehrenamtlicher oder steuerfinanzierter Berater oder ein findiger Asylanwalt.

Ist der Rechtsweg ausgeschöpft, bleibt als weitere Option der Versuch, die Anerkennung als „Härtefall“ durch entsprechende Kommissionen der Bundesländer oder die Petitionsausschüsse der Landtage oder des Bundestags zu erlangen. Auch bei geringen Erfolgsaussichten kann so weiter Zeit gewonnen werden. Aufenthaltsbeendende Maßnahmen werden für die Dauer des Verfahrens in der Regel ausgesetzt.

l 3. Es gibt zahlreiche Alternativen, um einen dauerhaften Aufenthaltstitel zu erlangen

Auch wer als Asylbewerber abgelehnt wurde, kann andere Gründe für einen dauerhaften Aufenthalt geltend machen. Das BAMF ist dann verpflichtet, diese Gründe zu prüfen. So kann die Heirat mit einem deutschen Staatsbürger oder einer dauerhaft aufenthaltsberechtigten Person den begehrten Aufenthaltstitel sichern. Die Überprüfung, ob eine Schein-Ehe zur Aufenthaltssicherung vorliegt, ist wiederum aufwendig und zeitraubend. Väter von nichtehelichen, aufenthaltsberechtigten Kindern haben ebenso gute Chancen auf ein Aufenthaltsrecht wie Mütter von Kindern, deren Vater deutscher Staatsbürger ist oder einen Aufenthaltstitel besitzt.

l 4. Auch ohne festen Aufenthaltstitel muß man noch lange nicht das Land verlassen

Vor der Einleitung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen muß geprüft werden, ob andere Abschiebehindernisse bestehen: tatsächliche und rechtliche Abschiebehindernisse. Faktische Hindernisse sind die Blockade der Rücknahme durch das Herkunftsland – besonders unkooperativ sind die Maghrebstaaten: von 5.500 Algeriern, Tunesiern und Marokkanern, die Mitte 2015 abgeschoben werden sollten, konnten nur 53, weniger als ein Prozent also, tatsächlich rückgeführt werden; ferner fehlende Reiseverbindungen oder Reisepapiere. Ein schuldhaftes Nichtmitwirken, das zur Verweigerung des Aufenthalts berechtigt, muß wiederum aufwendig nachgewiesen werden. Auf Grundlage der Europäischen Menschenrechtskonvention gelten auch schwere, im Heimatland nicht behandelbare Krankheiten, dort drohende Gefahren für Leben und körperliche Unversehrtheit oder der Schutz von Ehe und Familie vor unzumutbarer Trennung als rechtliche Abschiebehindernisse.

Abschiebestopp: Wird oft von einzelnen Bundesländern verfügt, mal wegen Winter und schlechten Wetters oder wegen anhaltenden Katastrophenzustands im Herkunftsland, oder aus politischer Opportunität auf Druck der Asyllobby.

Ermessenstatbestände: Fortsetzung einer Therapie, einer Ausbildung oder des Schulbesuchs von Kindern, Pflege eines kranken Angehörigen, Verlobung mit Absicht auf baldige Verheiratung, die einen dauerhaften Aufenthaltstitel begründen würde.

Werden solche Hindernisse festgestellt, wird in der Regel eine Duldung ausgesprochen. Das betrifft derzeit rund 168.000 der zum Stichtag 31. März knapp 220.000 Ausreisepflichtigen. Permanente Bestrebungen von Einwanderungslobby und linken Parteien richten sich darauf, die in kurzen Intervallen (meist 3 bis 6 Monate) verlängerten vorläufigen Duldungen pauschal in dauerhafte Aufenthaltstitel umzuwandeln.

l 5. Ausweisung heißt noch lange nicht Abschiebung

Vorsicht, wenn Politiker ankündigen, mehr „Ausweisungen“ vorzunehmen: Das ist nur die Ankündigung, daß das Aufenthaltsrecht in Deutschland verwirkt ist, und die bleibt oft folgenlos – auch bei Straftätern.

Theoretisch muß gehen, wer rechtskräftig zu einem Jahr Freiheitsstrafe verurteilt wurde (bei Asylbewerbern: drei Jahre); faktisch gibt es selbst dann noch humanitäre Hindernisse, etwa wenn in der Heimat Folter oder Todesstrafe drohen könnten.

Eine Abschiebung ist kompliziert und aufwendig, oft müssen mehrere Stellen – Ausländerbehörde, Polizei, Arzt – zusammenwirken. Länder und Kommunen scheuen Protestaktionen und Negativschlagzeilen. Entsprechend schlecht sind die Quoten: Die Freie Hansestadt Bremen, deren Innensenator Ulrich Mäurer (SPD) vor anderthalb Jahren die Erteilung dauerhafter Aufenthaltserlaubnisse als Hauptziel ausgegeben hatte, hat seither ganze 39 Abschiebungen vorgenommen.

Kommt es zur Abschiebung, müssen Abgeschobene die Kosten erstatten – eigentlich. In der Praxis bleiben Kreis und Land in der Regel auf einem fünfstelligen Betrag pro Fall sitzen.

l 6. Selbst die Zahl der „freiwilligen Ausreisen“ übertrifft die Zahl der Abschiebungen

Die „freiwillige Ausreise“ wird mit kostspieligen Programmen „gefördert“, da es für die Verwaltungen billiger ist, Starthilfen und Rückkehrprämien zu zahlen, als ein oft erfolgloses Abschiebungsverfahren einzuleiten.

Im ersten Quartal 2016 sind etwa 14.000 Personen freiwillig über humanitäre Förderprogramme ausgereist, rund dreimal mehr als im Vorjahreszeitraum. Die Zahlen sind allerdings ein Gutteil Augenwischerei: Hauptrückkehrländer waren 2015 die Westbalkanstaaten Albanien, Kosovo, Serbien, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und Montenegro, bei denen die Anerkennungsquoten ohnehin bei Null liegen. Bewerber aus diesen Ländern nutzen das Asylverfahren für temporäre Aufenthalte; sie kehren freiwillig zurück, um mit der Abschiebung verbundene Wiedereinreisesperren zu vermeiden, und sind vielleicht schon wenige Monate später wieder da. Die gewährten Prämien fallen dann unter Mitnahmeeffekte: Der deutsche Staat zahlt quasi die Fahrkarte für den nächsten Versuch.

l 7. Der Gang in die Illegalität ist auch eine Option

Das deutsche Asylsystem lädt zum Mißbrauch ein: Wer seine Identität verschleiert, sich als junger Erwachsener als „minderjähriger unbegleiteter Flüchtling“ ausgibt oder sich unter falschen und mehrfachen Identitäten anmeldet, kann seine Bleibechancen erhöhen. Im Februar mußten die Behörden einräumen, daß ihnen der Aufenthalt von über 130.000 registrierten Asylbewerbern sowie Identität und Namen von bis zu 400.000 weiteren Asylsuchenden unbekannt sind. 77 Prozent reisten im Januar ohne gültige Papiere ein.

Das Untertauchen nach einer gewissen Zeit ist besonders beliebt, wenn das Asylverfahren ohnehin nur als billige Eintrittskarte für kriminelle Aktivitäten genutzt wurde, zum Beispiel von Mitgliedern georgischer Einbrecherbanden.

Nicht nur in der Hauptstadt Berlin hilft eine linke, teils militante Unterstützerszene Ausreisepflichtigen beim Untertauchen, wie Innensenator Frank Henkel (CDU) kürzlich bestätigte. 2015 gab es mit 620 auch so viele Fälle von „Kirchenasyl“ wie nie zuvor; über tausend Menschen entzogen sich in evangelischen, katholischen und freikirchlichen Gemeinden der Ausreise. Wo „Kirchenasyle“ beendet wurden, wurde der Rechtsbruch in 323 von 332 Fällen mindestens mit einer Duldung belohnt.

l 8. Selbst bei laufender Abschiebung gibt es immer noch zahlreiche Sabotagemöglichkeiten

Lange Vorlaufzeiten und mehrfache schriftliche Vorwarnungen erleichtern Gegenmaßnahmen: falsches Attest über Nichttransportfähigkeit beschaffen, Familienmitglieder an getrennten Orten unterbringen und so weiter. Die Verhängung von Abschiebehaft, um solche Ausweichmanöver oder ein Untertauchen zu verhindern, scheitert oft an bürokratischen Anforderungen (fehlende Haftplätze, Haftfähigkeit muß ärztlich bescheinigt werden).

Wer es bis dahin noch nicht getan hat, kann – zum Beispiel als aufgegriffener Illegaler – auch in Abschiebehaft noch einen Asylantrag stellen. Auch organisierte Protestaktionen, etwa von Unterstützergruppen, oder persönliche Gegenwehr wie Randalieren im Ausreiseflugzeug können immer noch zum Abbruch der Abschiebung führen. Dann kann das Spiel wieder von vorne beginnen.

(Grafiken siehe PDF)