© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/16 / 10. Juni 2016

Von Paris im Stich gelassen
Frankreich: Zerplatzte Träume – aus französischen Übersee-Départements dringt die Kritik zunehmend scharf zur Zentrale hinüber
Katharina Puhst

Frankreich gewann mit der Annexion von Überseegebieten, die sich in Départements und Communités unterteilen, nicht nur Land, sondern auch Verantwortung. An diese appellieren seit Jahren die Mahorais, die Einwohner Mayottes, zuletzt  im Zuge der Petition „Réveil bourgeois“ (Bürgerliches Erwachen), in der innerhalb von zwei Wochen über 12.600 Unterschriften gesammelt und zusammen mit einem Schreiben an Präsident François Hollande gesandt wurden: „Jeder Tag, der verstreicht, ist ein Tag, an dem sich die Situation in Mayotte verschlimmert, die Unsicherheit, das Bildungswesen wie auch der Zugang zur medizinischen Versorgung.“

Fast unscheinbar, weil abgeschieden, liegt die 376 Quadratkilometer große Insel zwischen Madagaskar und dem Norden Mosambiks. Obwohl dem Archipel der Komoren zugehörig, einem unabhängigen Inselstaat bestehend aus Grande Comore, Anjouan und Mohéli, ist sie selbst nicht frei: Das erst 2011 eingegliederte Département gilt als Problemkind Frankreichs und sorgt seit Monaten für Schlagzeilen.

 Ende März versperrten Militante die Straßen und riefen zum zweiwöchigen Generalstreik auf, um Mittel für den Bau von Schulen und zur Bekämpfung von Unsicherheiten sowie die Umsetzung der Arbeitsgesetze einzufordern, wie sie in Frankreich beschlossen wurden.

Mayotte leidet unter hoher Arbeitslosigkeit

Mayottes Probleme sind groß: Über 80 Prozent der zumeist muslimischen Einwohner leben unter der Armutsgrenze, die Arbeitslosenquote liegt bei etwa 36,6 Prozent, die Schulbildung gilt als unzureichend aufgrund des fehlenden Unterrichtsmaterials. Die Kinder, so klagen die Lehrkräfte, seien oftmals unterernährt und haben mit dem Kantinenessen ihre einzige Mahlzeit am Tag. Hinzu kommen Analphabetismus, Unkenntnis der französischen Sprache und eine hohe Jugendkriminalität, denn fast ein Drittel aller Verbrechen werden von Minderjährigen begangen. So auch der am 15. April verübte Mord an einem Familienvater, der seinen Sohn vom Judo abholen wollte, als drei Jugendliche ihn niederstachen. Als weitere Hauptprobleme gelten Überbevölkerung, Wildfischerei, Korruption und illegale Einwanderer. 

Mitte April kündigte Premierminister Manuel Valls daraufhin dem 101. Département Hilfsmaßnahmen in Höhe von etwa 50 Millionen Euro an. Bereits vergangenes Jahr unterzeichnete Valls ein Abkommen, das im Zeitraum von 2015 bis 2020 eine Unterstützung von über 378 Millionen Euro vorsieht. Zudem sollen ab Juli 42 zusätzliche Gendarmen die Sicherheit der Mahorais gewährleisten. Damit sieht Frankreich seinen Teil der Aufgabe erfüllt. 

Ein Tropfen auf den heißen Stein? Ende Mai wurde im Internet ein Video bekannt, in dem ein von den Komoren Abstammender sowohl Frankreich als auch Mayotte drohte, der „Dschihad würde Mayotte erobern“ und das Blut derer vergießen, die sich „von der Religion abgewandt“ haben. Denn wenn diese „echte Moslems“ wären, so der Sprecher im Video, hätten sie nicht zugelassen, „Weiße bei sich aufzunehmen“. Eine Botschaft, die auf die Spaltung von Mahorais und Franzosen deutet. 

Mit der Besitznahme von Überseegebieten verband Frankreich vor allem militärische und wirtschaftliche Interessen. Im 18. Jahrhundert waren die Komoren regelmäßig Schauplatz diverser Kriege, welche die über die Inseln regierenden Sultane untereinander austrugen. Geschwächt von den Angriffen, verkaufte Sultan Andriantsoly 1841 Mayotte an den Kapitän Pierre Passot, der sich zu diesem Zeitpunkt auf Expedition befand, um im Namen Frankreichs auf Madagaskar einen neuen Militärhafen zu errichten. Für eine Jahresrente von 1.000 Piaster (heute etwa 762 Euro), übernahm Passot Mayotte mitsamt seinen damals 5.000 Bewohnern und hatte damit ideale Häfen für die Unterbringung von Kriegsschiffen. 

1843 bestätigte König Louis Philippe offiziell den Kauf, woraufhin Franzosen Mayotte besiedelten und eine Kolonie errichteten. Nachdem das Archipel der Komoren 1974 für seine Unabhängigkeit stimmte, wurde es ein eigener Inselstaat. „Wütend und gedemütigt hat Frankreich mit allen Mitteln versucht, die Resultate für ungültig zu erklären“, heißt es in der linken Tageszeitung L’Humanité. 

Mayotte bildet jedoch eine Ausnahme. Zwar gehörte es geographisch dem neuen Staat an, doch hatten sich mit 63,8 Prozent der Mohorais für den Status quo entschieden. Darum ließ Frankreich die Inselbevölkerung in zwei weiteren Abstimmungen für ihre Départementalisierung stimmen, wenngleich die komorische Konstitution die Unteilbarkeit des Inselstaates festlegt und die Organisation für Afrikanische Einheit (OUA), die Uno sowie die Arabische Liga das Prozedere verurteilten. Zumal die französische Bevölkerung nie über die Aufnahme der Mahorais abstimmen durfte und das Referendum vom Komorischen Inselstaat hätte gestellt werden müssen und nicht vom ehemaligen Kolonialstaat. Laut L’Humanité hatten die gemeinsame Geschichte und die Unabhängigkeitserklärung ein komorisches Volk hervorgebracht, doch „die Kolonisation hat den Mahorais gegen das komorische Volk erschaffen“.

Témoignages, die führende Tageszeitung von La Réunion, beschrieb 1975 Frankreichs Eingriff als Störung: „Indem es Mayotte für sich beansprucht und es den anderen Inseln entreißt, stört es die Einheit des Archipels. Die dadurch entstehenden Spannungen dienen anschließend als Vorwand für die Errichtung einer Militärbasis.“ Nach Dschibuti und La Réunion hat Frankreich dort inzwischen seine dritte Militärbasis im Indischen Ozean errichtet. 2009 erkannte der linke L’Observateur, daß die bislang kaum beachteten Komoren mit dem Verlust von Frankreichs letzter Militärbasis auf Madagaskar plötzlich der „entscheidende Kern einer Françafrique“ wurden.

Doch nur wenige Jahre später müssen die Mahorais gegen eine „Afrikanisierung“ kämpfen, welche im Zuge der Massenmigration stattfindet. Sowohl von den Nachbarinseln als auch von Afrika strömen Menschen herbei, um von den französischen Sozialleistungen zu profitieren. Fast die Hälfte der 212.000 Einwohner sind illegale Einwanderer. Damit hatte die komorische Regierung sicher nicht gerechnet, als sie in den siebziger Jahren die Bewohner der Nachbarinseln ermunterte, nach Mayotte überzusiedeln, auf der damals nur 40.000 lebten. Seit Januar kommt es immer wieder zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Einheimischen und Zugewanderten. Probleme bereiten Tausende Migrantenkinder, die auf Mayotte geboren und daher französischer Nationalität sind. 

Départements stehen unter starkem Migrationsdruck

Über 1.000 Migranten, derzeit unter freiem Himmel lebend, sollen nun auf ihre Aufenthaltsgenehmigung geprüft werden. Parallel dazu forderte Oppositionsführer Nicolas Sarkozy die Regierung Hollande auf, mit dem unabhängigen Inselstaat der Komoren schnellstmöglich einen Entwicklungsplan aufzustellen, vor allem zugunsten der Mutterschaft, damit „nicht alle komorischen Frauen auf Mayotte zu entbinden versuchen“.

Auch die Départements La Réunion, Französisch-Guayana und Guadeloupe haben mit starkem Migrationsdruck zu kämpfen. Zunehmende Spannungen zwischen ethnischen Gruppen sind die Folge. Im März erhielt Premierminister Valls einen Brandbrief aus Guadeloupe, in dem ihn Abgeordnete um Verstärkung der Polizei baten, da diese aufgrund der Vielzahl von Verbrechen nicht mehr Herr der Lage sei. In diesem Jahr gab es auf der Insel bereits sieben Tote infolge von Schießereien.

Probleme bereitet den Départements auch die wirtschaftliche Situation. Der ehemals florierende Rohrzucker- und Bananenanbau stagniert. Ebenso die einst solide Tourismusbranche. Fast   ausschließlich Franzosen verbringen ihre Ferien in „Frankreich in Übersee“.  Amerikaner und Japaner lassen sich von den Billigtarifen der Nachbarinseln Dominikanische Republik oder Barbados locken.

Teuer ist das Leben aber vor allem für die Inselbewohner. Bei einem Anteil von rund 80 Prozent importierter Lebensmittel müssen die Verbraucher für diese im Schnitt 84 Prozent mehr bezahlen als auf dem Festland. Da aber das Durchschnittseinkommen bei 900 Euro liegt – weit unterhalb der Hälfte von dem, was ein Bürger der Grande Nation erhält – können viele sich diese Produkte nicht leisten. Obwohl Frankreich jährlich Millionen Euro nach Guadeloupe pumpt, erkennen die Inselbewohner keine Besserung ihrer Lage. 

Paris ist stolz auf weltweites Netz von Militärbasen

Doch trotz Armut und Spannungen innerhalb der Départements möchte Paris diese nicht missen. Dies untermauerte Alain Juppé, möglicher Kandidat der Republikaner für die Präsidentschaftswahlen 2017, während seines Aufenthalts Anfang April in Französisch-Guayana. Das Département mit seinen 250.000 Einwohnern sei die „erweiterte Brücke“ Frankreichs: „Es spielt eine strategische Rolle in der Vor-Positionierung unserer militärischen Kräfte und im Bereich der Raumfahrt“, so Juppé. Hintergrund ist die Nähe Guayanas zum Äquator: Da auf dessen Höhe die Anziehungskraft geringer ist, läßt sich beim Start von Raketen und Satelliten Energie einsparen, was ebenfalls die USA und Rußland in ihrer Standortwahl zur Errichtung von Raumfahrtbasen auf ihren Territorien beeinflussen dürften. Mayotte und Guadeloupe sind dabei keine Ausnahmen – in allen fünf Départements gibt es heute Militärstützpunkte.

Anders zeigt sich der Einfluß Frankreichs in Neukaledonien, das als Collectivité sui generis über einen Sonderstatus verfügt. Entscheidungen in Verteidigung, Sicherheit, Recht und Währung obliegen allein Neukaledonien, so daß den Inseln mehr Autonomie zufällt als es bei den anderen Collectivités der Fall ist. Dies könnte sich schon bald ändern: Bis spätestens November 2018 darf Neukaledonien neu über sein Verhältnis zu Frankreich abstimmen und könnte sich für die Unabhängigkeit entscheiden. 

Auch als La Réunion am 19. März 1946 ein Département wurde, „waren die Hoffnungen riesig“, betonte Paul Vergès, Sohn von Raymond Vergès, einem der Mitgestalter des Gesetzes zur Départementalisierung von La Réunion, in einem Interview der Online-Nachrichtenseite Imaz Press Réunion. „Was heute bleibt, ist nichts weiter als der geplatzte Traum.“