© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/16 / 10. Juni 2016

Die Seele verloren
Das Wissen über die Kunst ordnen: Peter Betthausens „Kleine deutsche Kunstgeschichte – Ein Nachruf“
Christian Stülpner

Die vielen kleinen Wiedervereinigungen der doppelten Verbände, Akademien und Institutionen im Gefolge der deutschen Wiedervereinigung wurden von der Sachlichkeit und Selbstverleugnung des fachlichen Leitungspersonals der Einrichtungen der ehemaligen DDR getragen. Innerhalb der Staatlichen Museen Ost-Berlins nahm Peter Betthausen damals rasch die Verbindung zu seinen Amtskollegen im Westteil der Stadt auf. Als letzter Leiter der Berliner Nationalgalerie war er seit 1986 im Amt und hatte eine Reihe von Büchern über die Künstler des Klassizismus und der Romantik veröffentlicht.

In jüngster Zeit gilt seine Aufmerksamkeit der Kunstwissenschaft. So ist er einer der drei Herausgeber von „Metzlers Kunsthistoriker-Lexikon“ und verfaßte Biographien über Georg Dehio und Ludwig Justi. In einem Vortrag stellte er 2008 fest: „Kunstgeschichte, wie ich sie an der Humboldt-Universität gelernt und später mit praktiziert habe, hatte jedenfalls das Hauptziel, zur Stabilisierung der Gesellschaft beizutragen.“

Eine gesellschaftspolitische Indienstnahme der Kunst gilt heute als suspekt, obgleich sie eine jahrhundertelange Tatsache ist, die bedeutende Werke mehr beförderte als ihnen im Wege zu stehen. Heute sehen wir die Umwandlung der geordneten Wissenschaft von der Kunst in eine formlose Anhäufung von Kenntnissen über Kunstwerke. Betthausen meinte dazu: „Man denkt unwillkürlich an den Fischbestand der Weltmeere und die Ölvorkommen der Erde. Es scheint sich auf allen Gebieten unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen ein unstillbarer Hunger nach Rohstoffen auszutoben. In unserem Fach zeigt sich dies, wie gesagt darin, daß alles, aber auch alles erforscht wird, was (...) über Kunstwerke gewußt werden kann und dabei möglicherweise die Kunst am Kunstwerk aus den Augen verloren wird.“ Er hofft, „daß in nicht allzu ferner Zukunft eine neue Generation von Kunsthistorikern auf der Bühne erscheint, die das, was gerade angehäuft wird, wieder in ein System zu bringen versucht“.

Von der Kunstwissenschaft zur Kultursoziologie

In diese Richtung weist seine „Kleine deutsche Kunstgeschichte – Ein Nachruf“, die in der Edition Rieger in Karwe bei Neuruppin erschienen ist. Dürers in Kupfer gestochene „Melancholia“ ziert den Einband der Broschur und zeigt, daß hier tief nachgesonnen wird, worauf alles hinauswill. Solcher Eifer in der Ergründung ist der heutigen Kunstwissenschaft beinahe völlig abhanden gekommen. Sofern sie sich nicht damit begnügt, Farbschichten zu durchleuchten und Gewebe zu datieren, ist sie zur Kultursoziologie geworden. Peter Betthausen vertritt dagegen den alten Ansatz der gelehrten Gründer der Disziplin vom Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts.

Vor dreißig Jahren sind seine Monographien in Reihen mit Titeln wie „Welt der Kunst“ und „Maler und Werk“ erschienen, deren volkspädagogischer Anspruch darin bestand, dem interessierten Leser erstrangige Kunst in ihrer Epoche begreiflich zu machen, ähnlich wie das bereits die Blauen Bücher und die Kunstbuchreihen von Insel und Piper unternommen haben. Im Vorwort schildert er diese Werke der früheren Kunstgeschichte als zwar im Faktischen überholt, keineswegs aber in der Faktur. Fragen können anders gestellt und beantwortet werden, aber es gibt keinen Grund, sie gar nicht mehr zu stellen.

In dieser Tradition haben die DDR-Publikationen die biographischen Angaben unter der Überschrift „Die Zeit und der Künstler“ stets zur geschichtlichen Situation in Beziehung gesetzt. Dabei wurde freilich die deutsch-nationale Sichtweise durch ein marxistisches Geschichtsbild ersetzt. Das blieb berechenbar, während sich heute die Kunstbetrachtung zwischen niederschwelligem Event und ehrfurchtgebietendem Spezialistentum jeder konkreten Aussage verweigert. Die Werke bleiben unvergleichlich beziehungslos, womit sich ihre eigentliche Bedeutung relativiert.

Den sieben chronologischen Abschnitten seiner Kunstgeschichte von der Krönung Heinrichs 919 bis zum Ende des Deutschen Reiches im Jahr 1945 stellt Peter Betthausen jeweils die historischen Tatsachen voran. Ganz offenbar soll hier mehr als nur zusammengetragen werden. Zweihundert Seiten für einen Zeitraum von tausend Jahren erfordern strenge Gliederung und Ausschließlichkeit. Dennoch ist das Buch flüssig geschrieben und sogar einige metaphorisch wirkende Details werden eingeflochten, wie jenes vom Versinken des Schlüterschen Reiterdenkmals in der Havel beim Rückführungsversuch nach Kriegsende. Auch hat Betthausen den Mut, vom „unvergleichlichen“ Balthasar Neumann zu schreiben und sich unbefangen Georg Dehios Wendung von den „Werken der ersten Ordnung“ zu bedienen.

Daß seine kleine Kunstgeschichte 1945 endet, bezeugt nicht allein Resignation oder Trauer, wie der Untertitel „Ein Nachruf“ vermuten läßt. Einerseits wird damit ein Sicherheitsabstand zu dem gehalten, was mit einiger Zuverlässigkeit von heute aus schon zu beurteilen ist, andererseits klingt die Möglichkeit einer wiederkehrenden Krise an. „Es dauerte lange, bis die deutsche Kunstgeschichte nach Reformation und Dreißigjährigem Krieg wieder an ihre Höchstleistungen um 1000, um 1200 und um 1500 anknüpfen konnte.“

Statt eines „Verlusts der Mitte“ im Sinne Hans Sedlmayrs konstatiert Peter Betthausen, daß die Deutschen in den zwölf letzten Jahren ihrer Kunstgeschichte ihre Seele verloren und diese bis heute nicht wiedergefunden haben. Er schließt mit der tröstlichen Feststellung, daß das Bilden und Bauen die Menschheit, einschließlich der Deutschen, weiter beschäftigt und damit die Hoffnung bleibe, „daß wenigstens die Geschichte der ‘Kunst in Deutschland’ weitergehen wird“.

Peter Betthausen: Kleine deutsche Kunstgeschichte. Ein Nachruf. Edition Rieger, Neuruppin 2015, broschiert, 234 Seiten, 14,90 Euro