© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/16 / 10. Juni 2016

Ulrich Wickert geißelt Denktabus
Der frühere „Tagesthemen“-Moderator kritisiert in seinem neuen Buch den „Betroffenheitsjournalismus“
Ronald Berthold

Jetzt also auch Ulrich Wickert. Der frühere „Tagesthemen“-Moderator holt aus zur großen Abrechnung mit den heutigen Journalisten. Wer sein soeben erschienenes Büchlein „Medien: Macht & Verantwortung“ zur Hand nimmt, erlebt eine echte Überraschung. Nicht, daß der 73jährige nun am liebsten bei Pegida mitlaufen und „Lügenpresse“ rufen würde, aber die äußerst selbstkritische Auseinandersetzung mit seiner Branche verblüfft schon.

Wickert kritisiert nicht nur die „völlig uninformierten Journalisten“, die durch das politische Berlin stolpern. Er prangert auch die politisch korrekten Sprachregelungen, die zahlreichen Tabus, die er „hasse“, an und kommt zu dem unerwarteten, dafür aber ernüchternden Schluß: „Von wegen Gedankenfreiheit!“ 

Ein großes Problem der aktuellen Medienmacher sei die „Selbstzensur“. Dies geschehe „nach dem Motto: Das darf man doch nicht sagen! Weil man Zigeuner nicht mehr Zigeuner nennen soll, spricht der Polizeibericht von ‘Angehörigen einer ethnischen Minderheit mit häufig wechselndem Wohnsitz’“.

Es fehle auch an journalistischem Mut. Im Zusammenhang mit den Übergriffen der vergangenen Silvesternacht definiert Wickert diesen so: „Offen zu benennen, was die Selbstzensur scheinbar verbietet.“ Und: „Ein Gauner muß ein Gauner genannt werden”. Wer aus falsch verstandener Toleranz Regelverstöße nicht benenne, trage zum „Verfall der Gemeinschaft“ bei. Seine Analyse ist messerscharf: „Gesellschaftlicher Druck verhindert, daß die Dinge klar beim Namen genannt werden. Wir müssen uns damit befassen, daß die moderne, demokratische Gesellschaft sich eigene Denk-Tabus eingerichtet hat.“

Die Presse würde zur Orientierungslosigkeit beitragen, indem sie nicht mehr recherchiere, sondern oft nur noch nach vermeintlichen Sensationen heische – „die widerwärtigste Seite der Medien“. Es gehe fast nur noch um Voyeurismus. Bei seinem Angriff nimmt er auch die Leitmedien nicht aus: „Selbst die angesehensten Zeitungen“ würden sich manchmal keine Zeit mehr nehmen, um „zu überprüfen, was sie melden“ – ein harter Vorwurf. Ebenfalls besonders heftig: Journalisten glaubten heute, kritischer Journalismus sei es, „wenn man vermeintlich kritische, also bös gemeinte Gerüchte verbreitet“. Das Privileg der Pressefreiheit beginne, so der langjährige Fernsehmann, fragwürdig zu werden.

Vorurteile gegen Unternehmer verbreitet

Als ein Beispiel nennt Wickert an anderer Stelle die Hetzkampagne gegen den damaligen Bundespräsidenten Christian Wulff. Und in diesem Zusammenhang macht er auch deutlich, wie gefährlich die Macht der Medien inzwischen geworden ist: „Die Staatsanwaltschaft in Hannover hat sich die zum Teil hanebüchene und falsche Berichterstattung zu eigen gemacht, um das Verfahren eröffnen zu können.“ Damit mußte Wulff damals zurücktreten. Doch die Vorwürfe waren nicht haltbar – ein „für die Justiz peinliches Ergebnis“. Und für die Medien auch.

Einen grundlegenden Wandel in der Arbeitsauffassung seiner Kollegen macht Wickert aus: „Der kritische Journalismus weicht zunehmend dem Betroffenheitsjournalismus.“ Nicht der Inhalt sei mehr bedeutend, „sondern die emotional vermittelte Betroffenheit“. Journalisten verdrängten Wörter, „aber mit den Wörtern auch die Probleme, die diese Wörter schildern“.

Besonders schlecht kämen Unternehmer weg. Das Vorurteil laute, diese könnten sich „nicht ethisch verhalten“, weil dies der Konkurrenzdruck verbiete. „Das Bild des Unternehmers entspricht den Vorurteilen jedoch nicht.“ Es seien nicht „die horrenden Managergehälter, die unsere Wirtschaft bestimmen, sondern das häufig sehr soziale Verhalten der Eigentümer von mittelständischen Unternehmen“.

Doch für diese Werte ist die Presse oft blind. Auch in der Flüchtlingskrise spürt Wickert „eine Sehnsucht nach Wertediskussionen“. Doch „die Medien“, so stellt er fest, nähmen daran kaum teil: „Im Gegenteil, sie verurteilen diejenigen, die es tun.“ Ein Thema sind auch die zahlreichen Enten. So seien fast 80 Prozent der Medienberichte zum German-Wings-Unglück falsch gewesen. Bei dieser die Medien blamierenden Aussage beruft sich Wickert auf eine Sonderkommission zur Untersuchung des Unglücks.

Doch wie kann so etwas passieren? Wickert erklärt das am Fall von Nachrichtenagenturen wie dpa: Diese „meldeten schon einmal schnell irgendeine Sensation, weil sie die ersten sein wollen, die das Ereignis verbreitet haben“. Eine halbe Stunde später zögen sie die Falschmeldung still zurück. Aber der Nachrichtensprecher habe sie da bereits verlesen, und die Zuschauer glaubten sie.

Vom Wort der „Lügenpresse“ möchte er trotzdem nichts hören. Dies sei „immer ein Kampfbegriff von Extremisten“ gewesen. Als es um diese Vokabel geht, wird das Buch skurril und verschwörungstheoretisch. Wickert versteigt sich zu der These, „daß ein kluger Propagandist aus Moskau nachgeholfen hat, den Begriff ‘Lügenpresse’ wiederzubeleben“. 

Er habe dafür zwar keine Beweise, aber inzwischen „halte ich nichts für unmöglich“.

Ulrich Wickert: Medien: Macht & Verantwortung, Hoffmann und Campe, Hamburg 2016, gebunden, 160 Seiten,  16 Euro. Kindle: 11,99 Euro