© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/16 / 10. Juni 2016

Kein Trumpf-As für Fischers Thesen
Riezler-Briefe für eine „Re-Revision“: John Röhl will mit einer neuen Quelle Fritz Fischers wankendes Geschichtsbild stützen
Dirk Glaser

Als der Name des 1933 entlassenen Kurators der Frankfurter Universität, der half, mit der Berufung Max Horkheimers den Grundstein für die „Frankfurter Schule“ zu legen, würde Kurt Riezler heute allenfalls wenigen Experten für die Hochschulpolitik der Weimarer Republik etwas sagen. Daß der 1955 verstorbene promovierte Althistoriker aus einer Münchner Patrizierfamilie stattdessen im weiten Rund geschichtlich interessierter Bildungsbürger seit Jahrzehnten ein Begriff ist, verdankt er der Mißachtung seines letzten Willens. 

Testamentarisch hatte er nämlich verfügt, seine bis 1907 zurückreichenden Tagebücher zu verbrennen. Dazu kam es zunächst nicht, weil der damit beauftragte Bruder Walter Riezler, bis 1933 Museumsdirektor in Stettin, seinen alten Freund aus „Werkbund“-Tagen, den zum Bundespräsidenten avancierten Theodor Heuss, und den aus der Emigration zurückgekehrten Hans Rothfels einschaltete. Beide votierten dafür, vor allem jene Tagebücher vor dem Feuer zu bewahren, in denen Kurt Riezler seit 1909 seine Zeit als Berater des Reichskanzlers Theobald von Bethmann Hollweg dokumentiert hatte. Und gerade die Eintragungen während der „Julikrise“ 1914 sowie die in den ersten Kriegswochen, im Großen Hauptquartier hinter der Westfront, schienen ihnen von unermeßlichem historischen Wert. Im Schaltzentrum des Kaiserreichs aufgezeichnet, erwartete man von Riezlers Beobachtungen wichtige Aufschlüsse zur Frage des deutschen Anteils an der Kriegsschuld von 1914.

Entgegen der Empfehlung von Heuss und Rothfels vernichtete Walter Riezler dann doch den größeren Teil der Tagebücher, verschonte aber die „Blockblätter“ mit den Exzerpten, die sein Bruder aus dem Originalband angefertigt hatte. Diese kaum dreißig Druckseiten umfassenden Auszüge gingen in eine Edition der „Tagebücher, Aufsätze, Dokumente“ ein, die Karl Dietrich Erdmann 1972 publizierte. Der Kieler Zeithistoriker brachte damit neuen Schwung in die schon erlahmte Kontroverse um die Thesen seines Hamburger Kollegen Fritz Fischer, denen zufolge die Führungselite des Kaiserreichs spätestens seit 1912 zielstrebig auf die Auslösung eines großen Krieges zusteuerte, um Deutschland als Weltmacht zu etablieren. Riezlers Charakterisierungen des keineswegs kriegslüsternen Reichskanzlers, sondern des zaudernden Melancholikers Bethmann Hollweg, seine Andeutungen über des Kanzlers Handlungsmotive und skrupulöse Reflexionen, Hinweise auf Widerstände gegen dessen risikoscheue Politik seitens der Militärs, legten für Kritiker indes den Schluß nahe, diese Quelle als schlüssige Widerlegung von Fischers „Griff nach der Weltmacht“-Konstrukt zu werten.

Doch die Freude der vom Fischer-Lager so titulierten „nationalkonservativen Historikerschaft“, die angeblich mit Riezlers Hilfe post mortem die „deutsche Kriegsschuld“ ausradieren wollte, währte nur kurz. 1983 skandalisierten Fischers Hausmedien, Zeit, Spiegel und NDR, mit triftigen Gründen Erdmanns fragwürdige Editionsmethoden. Fischer durfte triumphieren („Das Staatsgeheimnis der Riezler-Tagebücher“, 1983) und zurrte das von ihm vermittelte Bild des „kriegswilligen“ Kanzlers fest. 

Seitdem, dreißig Jahre lang, galt seine Deutung der Weltkriegsursachen als herrschende Meinung. Bis Christopher Clarks Werk „Die Schlafwandler“ (JF 42/13) sie international zur Disposition stellte. Gegen diese, wie sie ihm erschien, „revisionistische Flut“ stemmte sich wie niemand sonst der noch lebenden Fischer-Apostel, der bald 80jährige britische Historiker John C. G. Röhl. In die „Schlafwandler“-Debatte einzugreifen, trieb ihn jedoch nicht nur der Mut des Verzweifelten, mit dessen Geschichtsbild auch sein Lebenssinn zu zerbröseln drohte. Er glaubte gegen Clark, der mit „Erdmann-Riezler“ wieder den Friedensfreund Bethmann präsentierte, vielmehr ein unschlagbares As im Ärmel zu haben. 

Dies hat er nun ausgespielt. Es handelt sich um 116 meist kurze Briefe Kurt Riezlers an seine Freundin, Verlobte und Gattin Käthe Liebermann, die Tochter des impressionistischen Malerfürsten Max Liebermann. 109 der 2008 auf einem Dachboden in Baltimore aufgefundenen Briefe stammen aus den von Mitte August 1914 bis Mai 1915 im Hauptquartier verbrachten Monaten und füllen etwas die schmerzlichen Lücken des Tagebuch-Fragments. Nach dem Urteil des Erste-Weltkrieg-Fachmanns Gerd Krumeich sind sie nicht weniger als ein „Aufruf zur Rückkehr“ zu Fischers Thesen (FAZ vom 18. Mai 2016).

Geschichtspolitisch bedeute dies, wie Röhl in einer überwiegend redundanten „historischen Einleitung“ betont, die Deutschen sollten sich durch Clark und andere „Revisionisten“ nicht in ihrem Geschichtsverständnis irritieren lassen, das Bundespräsident Joachim Gauck in seinen Gedenkreden 2014 in „demütiger Haltung“ bekräftigt habe, als er sich, in Abkehr von der „Tradition der Obrigkeit und der militaristischen Expansion“ bei seinen europäischen Nachbarn für den „Überfall“ des kaiserlichen Heeres entschuldigte und sich damit brav an Fischers Auffassung orientierte, dem „Meilenstein“ auf dem langen bundesdeutschen Weg nach Westen.

Für den Weitermarsch liefert Röhl mit seiner Brief-Edition jedoch nicht die vollmundig versprochene Wegzehrung. Riezlers Momentaufnahmen schildern Käthe Liebermann ein nur in Nuancen vom Bethmann-Porträt der Erdmann-Edition abweichendes Bild. Kein Hurra-Patriot, kein Annexionist, sondern der vertraute Zauderer tritt wieder auf, für den „alles im Fluß“ war. Wie einer seiner Ratgeber, der AEG-Chef Walther Rathenau, war er eher ein Anhänger von „soft power“, der „unwillig an die Vergrößerung Deutschlands“ heranging und sich eher eine sanfte Hegemonie des Reiches unter dem Dach eines mitteleuropäischen Zollbundes vorstellte. Und über die entscheidenden Juli-Wochen in Hohenfinow teilt Riezler auch rückblickend fast nichts mit, so daß selbst Röhl daraus nur den bekannten Honig saugen kann, der Reichskanzler habe damals „mindestens das Risiko eines Kontinentalkrieges“ auf sich genommen. Material für eine „Re-Revision der heutigen Weltkriegsforschung“ (Krumeich) hält Röhl damit jedenfalls nicht in der Hand. 

Guenther Roth, John C. G. Röhl (Hrsg.): Aus dem Großen Hauptquartier. Kurt Riezlers Briefe an Käthe Liebermann 1914–15, Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2016, gebunden, 300 Seiten, Abbildungen, 49 Euro