© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/16 / 10. Juni 2016

Kapitulation vor der Kraft des Wortes
Vor fünfzig Jahren entscheidet der Vatikan, seinen jahrhundertealten „Index der verbotenen Bücher“ aufzuheben
Wolfgang Kaufmann

Das Verbot unerwünschter Schriften hat im christlichen Europa eine lange Tradition. So ließ schon Kaiser Konstantin der Große 325 im Nachgang zum Konzil von Nicäa sämtliche Werke des Arius verbrennen. Mehr als tausend Jahre später nahm durch das Aufkommen des Buchdrucks die Menge von Publikationen mit vermeintlich glaubensgefährdendem Inhalt derartig zu, daß Paul III. 1542 beschloß, die Kongregation für die Glaubenslehre (Sacra Congregatio Romanae et universalis Inquisitionis) ins Leben zu rufen, deren Aufgabe nicht zuletzt darin bestehen sollte, den Stellvertreter Christi in puncto Zensur zu entlasten.

Zum wichtigsten Werkzeug der Inquisition wurde dabei der Index Librorum Prohibitorum, also das Verzeichnis der verbotenen Bücher. Dieses erschien erstmals 1559 unter der Ägide des neuen, besonders gestrengen Oberhirten Paul IV. und führte unter anderem antike Klassiker von Aristoteles über Platon und Hippokrates bis Ovid sowie natürlich die Schriften von Reformatoren wie Luther oder Melanchthon auf. Katholiken war die Lektüre der indizierten Werke bei Strafe der Exkommunikation, und somit des Verlustes des Seelenheils, untersagt.

Werke von Platon über Luther bis Heinrich Heine

Da sich bald auch die sechs Kardinäle, die als Generalinquisitoren fungierten, mit der Erstellung der Verbotsliste überfordert fühlten, übertrug Papst Pius V. die Aufgabe 1571 an die Indexkongregation, welche sie bis 1917 ausübte. Dann ging die Verantwortung für das Zensurverfahren auf Weisung von Benedikt XV. an die Heilige Kongregation des Heiligen Offizium (Sacra Congregatio Sancti Officii) über. Zu diesem Zeitpunkt enthielt die Zusammenstellung der tabuisierten Bücher bereits über 4.000 Titel. Dazu gehörten zum Beispiel sämtliche Liebesgeschichten von Honoré de Balzac, sieben Werke von René Descartes und vier von Heinrich Heine, die „Encyclopédie“ des Denis Diderot sowie natürlich die Abhandlungen prominenter „Häretiker“, zuvörderst Giordano Bruno und Galileo Galilei. Ebenso waren die Veröffentlichungen der Juristen Hugo Grotius und Joseph Berchtold betroffen, weil sie bestimmte Rechtsauffassungen des Papsttums kritisierten.

Bis zum Jahre 1962, in dem die allerletzte Aktualisierung des Index erfolgte, kamen noch etwa 2.000 Einträge hinzu. Interessanterweise finden sich darunter aber keine Publikationen von Adolf Hitler, Benito Mussolini oder Joseph Stalin – wie auch Karl Marx und dessen Schriften unerwähnt blieben. Dafür traf der vatikanische Bannstrahl im weiteren Verlaufe des 20. Jahrhunderts Autoren vom Schlage der Existentialisten Jean-Paul Sartre und Albert Camus sowie diverse progressive katholische Theologen.

Zuletzt zeichnete der erzkonservative Kardinal Alfredo Ottaviani als Sekretär des Heiligen Offiziums für den Index verantwortlich. Dieser wiederum hatte dafür gesorgt, daß sein Rivale Giovanni Battista Montini aus Rom nach Mailand beordert wurde, ohne freilich damit dessen spätere Wahl zum Papst verhindern zu können. Deshalb vermochte der nunmehrige Paul VI. Rache an „Alfredo dem Schrecklichen“ zu üben, indem er am 7. Dezember 1965, also dem vorletzten Tag des Zweiten Vatikanischen Konzils, das Dekret „Integrae Servandae“ erließ. Darin verfügte Paul VI. zunächst die Umwandlung des Heiligen Offiziums zur Kongregation für die Glaubenslehre (Congregatio pro Doctrina Fidei), wonach es dieser Zentralbehörde der römischen Kurie dann die Kompetenz absprach, Bücher zu verbieten – sie durfte jetzt lediglich nicht genehme Publikationen „mißbilligen“.

Damit war das Heilige Offizium, das sich in letzter Zeit immer mehr als Staat im Staate gebärdet hatte, ausgeschaltet und der „Index der verbotenen Bücher“ hierdurch en passant hinfällig geworden. Dies mußte auch Ottaviani eingestehen, obgleich er noch bis zum 14. Juni 1966 abwartete, ehe er auf wiederholte drängende Anfragen irritierter Katholiken hin eine formelle „Notifikation“ über die Abschaffung der Schwarzen Liste herausgab.

Die überraschend schwache Gegenwehr des Hardliners in der scharlachroten Robe resultierte aus dessen Einsicht in die Vergeblichkeit des Unterfangens, angesichts des Siegeszuges der neuen Medien Radio und Fernsehen unerwünschte Meinungen zu unterdrücken. Das kommt in einem Interview zum Ausdruck, welches Ottaviani damals der Kirchenzeitung für das Bistum Hildesheim gab: Das geschriebene Wort sei inzwischen längst nicht mehr der einzige „Ideenvermittler“, wodurch das bisherige Zensursystem zum „Anachronismus“ gerate. Daher müsse sich nun jeder Katholik selbst „vor Gott und seinem Gewissen“ dafür verantworten, was er lese“.