© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 24/16 / 10. Juni 2016

Meere aus Kunststoff
Mariner Plastikmüll ist ein unterschätzter Umweltschadstoff / Trotz hoher Recycling-Quoten in Deutschland auch die Nordsee bedroht
Ingo Grassinger

Die weltweite Plastikproduktion wächst unaufhaltsam: 2014 wurde der Rekord mit 300 Millionen Tonnen aufgestellt. Diese Unmenge an sich, so räumen die auf Ökologie spezialisierte Geographin Karin Steinecke (Uni Bremen) und die Didaktikerin Birte Habel ein (Geographische Rundschau, 4/16), müsse noch keine Ängste auslösen. Denn in vielen Ländern Europas liege die Recycling-Quote bei Plastik nahe an 100 Prozent. 

Gelangt daher Plastik in ökologisch fortgeschrittenen Industrieländern mit perfekter Abfallwirtschaft gar nicht erst in den Naturkreislauf? Das ist eine Illusion, da auch dort Plastikmüll anfällt, der nicht ordnungsgemäß entsorgt wird. Die beiden Autorinnen verweisen dafür auf eine Studie von 2015, wonach im Schnitt auf eine Tonne recycelten etwa sechs Zentner unsachgemäß entsorgten Plastikmülls entfallen. Allein für 2010 errechne sich daraus ein Eintrag zwischen 4,8 und 12,7 Millionen Tonnen, der die Weltmeere belastet. Da 70 Prozent zunächst schwimmender Kunststoffteile in tiefere Wasserschichten absinken, spricht eine andere aktuelle Studie vom Meeresgrund als der „größten Senke für Kunststoffabfälle“, die auf der Erde zu finden ist.

Unsichtbare Gefahr im Nanometerbereich

Plastik löst sich aber in den Weiten und Tiefen der Ozeane nicht in Nichts auf: Mechanisch zerkleinert durch Wellenbewegung, Wind oder Sandschliff, chemisch zersetzt durch UV-Strahlung und Salzeinwirkung, wandelt sich Grobmüll zu Mikroplastik, die nur im Milli- oder Nanometerbereich zu messen ist. Eine unsichtbare Gefahr, die „einen ganzen Cocktail an Schadstoffen enthält“, der Gesundheit und Leben von Meeresorganismen bedroht.

Überdies sei nachgewiesen, daß Mikroplastik wie ein Schwamm wasserunlösliche und schwer abbaubare organische Schadstoffe wie etwa DDT bindet. Von Muscheln und Krebsen, Fischen und Meeressäugern aufgenommen, gelangen sie in deren Blut- und Lymphsystem oder lagern sich im Gewebe ein. Obwohl exakte ökotoxikologische Effekte nicht abschließend erforscht sind, können Steinecke und Habel auf erste gesicherte Erkenntnisse über Entzündungsreaktionen im Gewebe, Einflüsse auf das Fortpflanzungsverhalten und Störungen des Immunsystems verweisen. Seit kurzem stehe zudem fest, daß auch der menschliche Körper kleinste Plastikfragmente über die Nahrungskette aufnehmen könne. Weiterhin ist seit zehn Jahren bekannt, welche negativen Folgen marine Plastikteilchen für die natürliche Küstenmorphologie und -dynamik haben. Enthält Sand einen hohen Plastikanteil, ändern sich seine physikalischen und chemischen Eigenschaften bezüglich Bindigkeit, Nährstoffverfügbarkeit und Wasserhaltefähigkeit, was voraussichtlich zur Instabilität von Dünen führt und wiederum für den Küstenschutz nachteilig sein dürfte.

In der relativ übersichtlichen Nordsee ist das globale Problem des marinen Plastikmülls mit allen ökologischen, geomorphologischen und ökonomischen Facetten wie in einem Freilandlabor zu studieren. Im Einzugsbereich der großen Flüsse, die in die Nordsee münden, leben 160 Millionen Menschen, dort konzentrieren sich 15 Prozent der Weltindustrie. Jährlich werden hier 125.000 Schiffsbewegungen registriert – ein Viertel des Weltschiffsverkehrs. Gleichzeitig ist die Nordsee eines der am stärksten befischten Meeresgebiete weltweit.

Politisch Verantwortliche zum Gegensteuern zwingen

Trotzdem stecken die, wie Steinecke und Habel klagen, aufwendigen und teuren Forschungen, die den politisch Verantwortlichen die „Plastiklage“ an und in der Nordsee vermitteln und zum Gegensteuern zwingen könnten, erst in den Kinderschuhen. Die verschiedenen Programme zur Strandmüllerfassung beachteten bisher nur sichtbare Teile. Die Mikroplastik blieb unberücksichtigt, da es keine einheitliche und validierte Extraktions- und Identifizierungsmethode dafür gebe. In einigen seit 2013 vorgelegten Untersuchungen schwanken die Angaben zur Partikelkonzentration im Seewasser extrem: zwischen 0,01 und 102.000 Teilchen pro Kubikmeter Wasser sowie zwischen 1 und 3.800 Teilchen pro Kilogramm Strand- oder Schlicksediment. Einzelne Spitzenwerte seien allerdings durchaus mit der berüchtigten Lagune von Venedig vergleichbar. Zuverlässigere Informationen lieferte der Mageninhalt des Eissturmvogels (Fulmarus glacialis). Als dessen kritische Belastungsgrenze gelten 0,1 Gramm Kunststoffteilchen pro Vogelmagen. Viel mehr Plastik fand sich bereits bei 58 Prozent der Totfunde zwischen 2003 und 2007.

Doch während die EU-Verpackungsrichtline den Kampf gegen Plastiktüten verordnet, gilt weiter die Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie (2008/56/EG), die dekretiert, „Abfälle im Meer“ hätten „keine schädlichen Auswirkungen auf die Küsten- und Meeresumwelt“. Daher empfehlen die Autorinnen, ein Richtungswechsel bei der Behandlung des Problems sollte auf nationaler wie internationaler Ebene mit dem Bewußtseinswandel beginnen. Müll im Meer sei, wie Schwermetalle, Öl oder Chemikalien klar als „Umweltschadstoff“ zu betrachten, damit er endlich dasselbe „politische Gewicht“ erhalte wie diese.

So weit ist es trotz des aktuell zunehmenden öffentlichen Interesses am Thema offenbar noch lange nicht, denn die Vorschläge, die Steinecke und Habel für den „Richtungswechsel“ machen (Entwicklung biologisch abbaubarer Verpackungen, Ausweitung der Besteuerung von Einwegprodukten), münden etwas hilflos in einen Verbraucher-Appell: „Jeder einzelne kann versuchen, seinen Plastikkonsum zu reduzieren.“





Selbstverpflichtung des Einzelhandels

Die EU hat 2015 eine Richtlinie über Verpackungen und Verpackungsabfälle (94/62/EG) erlassen, die vorschreibt, den Verbrauch von Plastiktüten drastisch zu reduzieren. In Deutschland soll dies mit einer freiwilligen Selbstverpflichtung des Handels erreicht werden (JF 15/16). Diese sieht vor, daß Kunststofftüten – außer dünnen für Obst und Gemüse – nur noch gegen eine Gebühr verkauft werden. Der Rewe-Konzern verzichtet zukünftig ganz auf den Plastiktütenverkauf. „Für diejenigen Kunden, die an der Kasse eine Tragehilfe für den Einkauf benötigen, stehen in den Rewe-Märkten mehrfach wiederverwendbare Alternativen zur Auswahl wie Baumwolltragetaschen, Permanent-Tragetaschen aus Recyclingmaterial, Kartons und Papiertüten“, erklärte Geschäftsführer Lionel Souque. Damit könne jeder „aktiv Verantwortung für Umwelt- und Meeresschutz übernehmen“. Der Naturschutzbund (Nabu) kritisiert aber, daß inzwischen 63 Prozent des frischen Obsts und Gemüses vorverpackt verkauft würden. Laut einer Studie fielen dadurch jährlich in Deutschland 53.000 Tonnen Kunststoffmüll an.

„Vorverpackungen bei Obst und Gemüse“: www.nabu.de

Infoportal mit Fragen und Antworten zu „Mikroplastik – die unsichtbare Gefahr“: www.bund.net