© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/16 / 17. Juni 2016

Das Chamäleon
Porträt: Wolfgang Schäuble wurde schon als konservativer Königsmörder gehandelt. Doch Merkels Finanzminister ist politisch flexibel
Paul Rosen

Er gilt als Architekt der deutschen Einheit, war schon mal CDU-Vorsitzender. Trotz seines Sturzes im Jahr 2000 ist Wolfgang Schäuble seit Jahren der erste Mann in der zweiten Reihe der CDU. Seit 1972 Bundestagsabgeordneter, scheint der 73jährige immer noch für alle Positionen geeignet zu sein: Bundespräsident, Bundeskanzler, Bundestagspräsident und für jedes denkbare Ministerium. Daß Schäuble zeitlebens Unabhängigkeit von früher von ihm vertretenen Positionen demonstriert und mit schwer oder gar nicht nachvollziehbaren Äußerungen für Verwirrung sorgt, scheint nicht weiter zu stören. 

Jüngstes Beispiel ist eine Äußerung Schäubles in einem Artikel der Wochenzeitung Die Zeit, in dem er der ungesteuerten Zuwanderung aus bisher nicht bekannten und auch wissenschaftlich nicht nachvollziehbaren Gründen das Wort redete: „Die Abschottung ist doch das, was uns kaputtmachen würde, was uns in Inzucht degenerieren ließe. Für uns sind Muslime in Deutschland eine Bereicherung unserer Offenheit und unserer Vielfalt. Schauen Sie sich doch mal die dritte Generation der Türken an, gerade auch die Frauen! Das ist doch ein enormes innovatorisches Potential.“ 

Das politische und mediale Berlin hüllte sich weitgehend in Schweigen ob der schwer verständlichen und noch schwerer nachvollziehbaren Äußerung des Finanzministers. Der hatte allerdings bei früheren Gelegenheiten schon einmal das glatte Gegenteil erzählt: „Die Flüchtlingszahlen müssen dramatisch sinken, sonst schaffen wir das nicht mehr.“

Vielleicht kennzeichnet die Gegensätzlichkeit der Äußerungen Schäubles am besten sein chamäleonhaftes Wesen. Schäuble war schon immer – und seit dem folgenschweren Attentat von 1990 auf ihn noch mehr – ein Mann, der mit Äußerungen provozierte. So wieder in jüngster Zeit, als er die CDU-Konkurrenz Alternative für Deutschland (AfD) als „Schande für Deutschland“ abkanzelte. 

Sein Verhältnis zur Wahrheit ist eingetrübt. Das wurde besonders deutlich in der CDU-Spendenaffäre, als Schäuble eine Spende des Waffenhändlers Schreiber, an die er sich nicht richtig erinnern konnte oder wollte, das Amt kostete. Geschadet hat dem Juristen die Parteispendenaffäre letztlich nicht. Er gilt sogar als „der Mann, der Merkel beerben könnte“ (Hannoversche Allgemeine). Er scheut sich nicht, die Kanzlerin, die ihn – damals Generalsekretärin – als CDU-Vorsitzenden zum Rücktritt drängte, öffentlich zu kritisieren, indem er ihre Flüchtlingspolitik mit dem Lostreten einer „Lawine“ verglich. In Umfragen ist Schäuble einer der beliebtesten Politiker, auch wenn er die deutsche Öffentlichkeit nicht nur einmal hinters Licht führte: Nachdem der Finanzminister zu Beginn der Euro-Krise versichert und sogar Wetten angeboten hatte, daß die Rettungsschirme auslaufen, wurde die Befristung kurz danach aufgehoben und die Euro-Rettung zum Ewigkeitsprojekt.

Erst für, dann gegen den Rauswurf der Griechen

 Ein weiterer Wesenszug dieses Politikers ist sein Jähzorn. Vor der versammelten Presse kanzelte Schäuble schon mal seinen Pressesprecher ab, und selbst vor dem Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) scheute Schäuble nicht zurück: Als Gabriel forderte, parallel zur Flüchtlingshilfe ein „neues Solidaritätsprojekt für unsere eigene Bevölkerung“ aufzulegen, nannte Schäuble dies „erbarmungswürdig“ und sprach von „Gerede“ des SPD-Vorsitzenden. 

Weggefährten hat Schäuble eigentlich nicht, selbst gute Freunde leiden unter seinem Zynismus. In jüngster Zeit wurde oft auf Jens Spahn (CDU), Schäubles Parlamentarischen Staatssekretär, hingewiesen. Er gilt als „His Master’s Voice“ (Stimme des Herrn), auch wenn sich der offen zu seiner Homosexualität bekennende Spahn manchmal konservativ äußert. In Wirklichkeit ist Spahn als Vertreter der Bundesregierung im Haushaltsausschuß des Bundestages der Durchpeitscher der Griechenland-Hilfen – zuletzt am vergangenen Freitag in Höhe von zehn Milliarden Euro. Spahn ist Wegbereiter für das schwarz-grüne Bündnis, das sich nach der Wahl 2017 abzeichnet und zu dem man die SPD, falls die Stimmen nicht reichen, hinzunehmen könnte. Schäuble kann sich dann als Visionär fühlen: 1994 setzte er gegen den Widerstand seiner eigenen Parteifreunde und der SPD durch, daß mit Antje Vollmer erstmals eine Grüne den Posten des Bundestagsvizepräsidenten besetzen konnte. 

Die große Lebenslinie des Wolfgang Schäuble ist die Machtausübung. Äußerungen werden da beliebig. Einerseits findet er die Steuerquote in Deutschland „nicht zu hoch“, um andererseits wenig später Steuersenkungen ab 2019 anzukündigen. Auch bei den Hilfen für Griechenland drehte und wendete er sich: Erst stellte er sich gegen die Kanzlerin und verlangte den Rauswurf der Griechen aus der Eurozone („isch over“). Und wenig später ist derselbe Schäuble dafür, Griechenland in der Eurozone zu halten, aber den Griechen nicht die Schulden zu erlassen. Wieder etwas später stellt Schäuble seine Zustimmung zum Schuldenschnitt nach der Bundestagswahl 2017 in Aussicht. 

Jahrelang war von Schäuble kein Wort gegen die Niedrigzinspolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) zu hören, weil dadurch auch sein Bundeshaushalt saniert wurde und er damit die „schwarze Null“ als seinen Erfolg verkaufen konnte. Und Mitte Mai berichtete er über ein Gespräch mit EZB-Präsident Mario Draghi über die Niedrigzinspolitik: „Ich habe Mario Draghi gesagt: Sei ganz stolz. 50 Prozent des Ergebnisses einer Partei, die neu und erfolgreich zu sein scheint in Deutschland, kannst du den Auslegungen dieser Politik zuschreiben.“ 

Die anderen 50 Prozent – könnte man ergänzen – gehen aber auf das Konto von Politikern wie Schäuble, die keine Standpunkte haben, sondern sich wie der Hahn auf dem Kirchturm drehen.