© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/16 / 17. Juni 2016

Zwischen Reichstag und Kanzleramt
Zurück in die Zukunft?
Gernot Facius

Der prominente Sozialdemokrat lobt die Charta der deutschen Heimatvertriebenen in den höchsten Tönen. Das Dokument von 1950, das sich gegen Rache und Vergeltung für das an den Ost- und Sudetendeutschen verübte Unrecht stellt, sei von „weitreichender Bedeutung“, es habe innenpolitisch radikalen Bestrebungen den Boden entzogen und außenpolitisch einen Kurs der europäischen Einigung „unter Einbeziehung unserer mittel- und osteuropäischen Nachbarn vorbereitet“. 

Der Mann, der sich so äußerte, war Otto Schily, Bundesinnenminister unter Kanzler Gerhard Schröder. Inzwischen sind 16 Jahre vergangen. In der Berliner Politik hat sich einiges geändert. 

Zum 25. Jahrestag der Unterzeichnung des deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrags am 17. Juni scheint es nicht einmal möglich, die Charta in einer fraktionsübergreifenden schwarz-rot-grünen Bundestagsresolution als Baustein der Freundschaft zwischen beiden Ländern zu würdigen und gleichzeitig „in angemessener Form den Beitrag der Heimatvertriebenen bei der Aussöhnung mit Polen“ herauszustellen, wie von der CDU/CSU-Fraktion bedauert wird. 

Die SPD beharrte auf einer Einbeziehung der Grünen und schwenkte auf deren bekannte, nicht gerade vertriebenenfreundliche Linie ein: Die Charta erwähnte nicht die Nazi-Verbrechen, tauge somit nicht als „Versöhnungsdokument“. Wenn es kein Einvernehmen mit den Grünen gebe, richtete SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann dem Koalitionspartner aus, müsse der Antrag von der Tagesordnung genommen werden. Versuche von Unionsseite, das Projekt einer gemeinsamen Entschließung durch einen Zusatz zu retten, daß das Dokument aus dem Kontext seiner Entstehung – am 5. August 1950, nur fünf Jahre nach Kriegsende – bewertet werden müsse, führten (noch) zu keiner Einigung. 

Alles ausschließlich ein semantisches Problem oder doch eher mehr? Dem Kommentator der Frankfurter Allgemeinen Zeitung drängte sich jedenfalls der Verdacht auf, „als ob nun alte ostpolitische Fronten wiedereröffnet werden sollen“. Das in der Charta postulierte Recht auf die Heimat wird offenbar aufs neue zu einem Streitthema. Vor allem die Grünen, denen die SPD zu folgen bereit ist, holen das Gespenst des Geschichtsrevisionismus, mit dem man die Polen nicht verschrecken dürfe, aus dem Keller. 

Wie auch immer: Man war schon einmal weiter, zum Beispiel in den siebziger Jahren. Der damalige Bundesinnenminister Werner Maihofer (FDP) wünschte sich den 5. August, den Jahrestag der Verkündung der Vertriebenen-Charta,  als Tag der nationalen Einkehr. Maihofer, Mitglied der Regierung Schmidt-Genscher, stellte ihn in eine Reihe mit Gedenktagen wie dem 17. Juni 1953 und dem 20. Juli 1944. Der Mann hätte es heute schwer, dem politischen Pranger zu entgehen. 

Nun darf man gespannt sein, ob sich Union, SPD und Grüne doch noch zusammenraufen und einen Kompromiß finden, der auch den deutschen Vertriebenen gerecht wird. Am 22. Juni stehen deutsch-polnische Regierungskonsultationen an. Die Zeit wird knapp.