© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/16 / 17. Juni 2016

Brüssels Angst vor dem Präzedenzfall
Großbritannien: Nicht nur auf der Insel tobt der Kampf um den Brexit, auch international sorgt er für Zündstoff
Josef Hämmerling

Fußball-Europameisterschaft in Frankreich? Nicht ganz. Großbritannien wird derzeit von einem anderen Thema beherrscht: Brexit! Am 23. Juni stimmen die rund 47 Millionen Wahlberechtigten darüber ab, ob das Vereinigte Königreich auch weiterhin der Europäischen Union angehören wird oder nicht. Holen die EU-Gegner den Sieg, wäre es das erste Mal, daß ein Land aus dem 1993 gegründeten Staatenverbund ausscheidet. Die Abstimmung ist im ganzen Land präsent: Die Innenstädte sind vollgepflastert mit Anti-EU- und Pro-EU-Plakaten und Ständen von Parteien, Organisationen und Gewerkschaften. Im Fernsehen wird zur besten Sendezeit heftigst diskutiert. Selbst die Kirchen stellen ihre Gotteshäuser für Diskussionen zu diesem Thema zur Verfügung, so etwa die Farm Street Church in Mayfair, Central London.

Der Hauptgrund hierfür ist sicherlich, daß sich die Umfrageergebnisse in den vergangenen Wochen stark änderten. Hielten sich vor einem Vierteljahr die Brexit-Befürworter und -Gegner noch die Waage, sieht es derzeit anders aus: Nach einer Umfrage der Zeitung The Observer wird die „Leave-Kampagne“ derzeit von 43 Prozent der britischen Bevölkerung unterstützt, während 40 Prozent in der EU bleiben wollen. Um die entscheidenden noch unentschlossenen 17 Prozent ist jetzt ein heißer Kampf entbrannt. Dabei hat sich nun sogar eine ungewöhnliche Koalition aus Labour, Tories, Liberalen, Grünen und Gewerkschaftern gebildet. 

Harte Bandagen: „Hofnarren und Hitler“

Auch der Ton wird immer rauher. Besonders aggressiv trat der frühere britische Premier John Major in Erscheinung. So nannte der 73jährige den früheren Bürgermeister Londons, Boris Johnson, einen „charmanten Hofnarren“. Die Befürworter eines Brexits spielten „russisches Roulette“ mit dem Land, und die Kampagne hierfür sei „albern und unehrlich“. Die Behauptung, ein EU-Austritt würde mindestens 300.000 Arbeitsstellen schaffen, sei „Betrug“, vielmehr stünden drei Millionen Arbeitsplätze auf dem Spiel. Überhaupt seien die Äußerungen der Brexit-Befürworter „Demagogie“, wie etwa die „Türkengefahr“, wonach Millionen Türken nach einem Beitritt ihres Landes in Großbritannien einen Job suchen würden. 

Auch der derzeitige Premierminister David Cameron, der erst vor einigen Monaten selber mit europakritischen Äußerungen zu hören war, sagte nun für den Fall eines Brexits eine Rezession, einen Einbruch des Handels und Jahre der Unsicherheit voraus. Auf der gleichen Veranstaltung sagte die Labour-Abgeordnete Harriet Harman, im Falle eines Brexits seien Vaterschafts- und Mutterschaftsurlaub, bezahlte Ferien und ein Schutz für Teilzeitangestellte in Gefahr. 

Ins selbe Horn stießen die Vorsitzenden der größten Gewerkschaften, die ihre mehr als sechs Millionen Mitglieder aufriefen, für einen Verbleib in der EU zu stimmen. Druck übt auch die britische Notenbank aus: ein Brexit würde das britische Pfund schwächen. Unterstützung erhält sie von Analysten der US-Investmentbank Goldman Sachs, wonach das Pfund „dauerhaft bis zu 20 Prozent“ an Wert verlieren könnte. Das Nationale Institut für Sozial- und Wirtschaftsforschung befürchtet Sozialleistungskürzungen bei einem Budgetdefizit von rund 44 Milliarden Pfund im Jahr 2020. Familien könnten dadurch pro Jahr zwischen 1.861 und 5.542 Pfund verlieren, also bis zu rund 7.000 Euro.

Auch Schottlands Regierungschefin Nicola Sturgeon warnt vor einem Brexit und fordert ihre Landsleute, die ebenfalls mehrheitlich gegen einen Brexit sind,  zur regen Wahlteilnahme auf. Für den Fall eines Brexit will sie sich für ein zweites Unabhängigkeitsreferendum einsetzen, betonte Sturgeon.

Doch auch die Befürworter des Brexit scheuen nicht vor deutlichen Worten zurück. Laut Boris Johnson strebt die EU einen europäischen Superstaat an: „Napoleon, Hitler, diverse Leute haben das versucht, und es endete tragisch.“ Ukip-Chef Nigel Farage verwies auf die auch in Großbritannien immer weiter zunehmenden Migrantenzahlen: „EU-Mitgliedschaft bedeutet Hunderte Millionen von Menschen mit EU-Pässen, die nach Großbritannien kommen dürfen.“ Justizminister Michael Gove warf Regierungschef David Cameron vor, sein Versprechen gebrochen zu haben, die starke Zuwanderung einzudämmen. Der Premierminister hatte 2010 versprochen, die Zahl der Migranten auf 100.000 Personen jährlich zu begrenzen – 2015 wanderten aber 333.000 ein. 

Mit Erzbischof Peter Smith (Diözese Southwark) stellte sich nun auch ein hoher Kirchenvertreter auf die Seite der EU-Gegner. Smith bedauerte den Souveränitätsverlust Großbritanniens zugunsten von Brüssel, dessen Bürokratie „extrem bürokratisch“ geworden sei. Auch habe die Einführung des Euro Europa sehr geschadet. 

Obama warnt vor Negativfolgen für London

Klaren Widerspruch zu den negativen wirtschaftlichen Vorhersagen gibt es von Andrew Lilico, dem Generaldirektor des Wirtschaftsforschungsinstituts Europe Economics. Nach Ansicht Lilicos, der laut dem Guardian zu den Top-Ökonomen Europas zählt, dürfte Großbritannien vielmehr sogar von einem Austritt aus der EU profitieren. Denn dann bräuchte sich das Land nicht mehr an die oftmals sehr restriktiven EU-Vorgaben zu halten. Die mit den anderen Staaten auszuhandelnden Freihandelsabkommen wären deutlich profitabler. Darüber hinaus entfielen die hohen Abgaben an die EU und vor allem auch viele Regularien, die das britische Budget jedes Jahr in nicht unerheblichem Maß belasten.

Internationale Unterstützung finden die EU-Befürworter in US-Präsident Barack Obama. Im Falle eines EU-Austritts stehe ein Handelsabkommen mit Großbritannien „nicht auf der Prioritätenliste“. Großbritannien müsse sich dann hinten in der Reihe anstellen, warnte er. Auch Frankreichs Präsident François Hollande warnte: Die europäischen Staaten hätten sich nie nähergestanden als heute. Daher hoffe er, die britischen Wähler „erinnerten sich daran“. Auch Polen – mit seinen mehr als 850.000 in England lebenden Staatsbürgern –, die Slowakei oder die Regierung Estlands stehen an der Seite der EU. Während Polens Präsident Andrzej Duda und der slowakische Oppositionspolitiker Martin Klus im Falle eines Brexit einen „Kollaps der EU“ nicht ausschließen wollen, mahnt Estland, Großbritannien sei wichtig für die weitere Stabilität und wirtschaftliche Entwicklung der EU-Staaten.

Dagegen erhalten die Brexit-Befürworter Unterstützung aus Rußland. Moskau hofft, ein Austritt Großbritanniens würde die ganze EU schwächen, so daß sein Land in die Bresche springen könnte. Auch die Parteivorsitzende des Front National, Marine Le Pen, erhofft sich eine Kettenreaktion in den anderen EU-Staaten, die mindestens zu einer Dezentralisierung der bisherigen EU-Politik führen sollte.

Gerade dies mißfällt dem Vorsitzenden des Auswärtigen Ausschusses im Europaparlament, Elmar Brok. Dem CDU-Politiker zufolge wird es nach einem Brexit „keine zweite Chance“ und „keine Neuverhandlungen über einen weiteren Deal geben“. Man wolle keinen Präzedenzfall für andere Länder schaffen, zuerst aus der EU auszutreten, um danach bessere Bedingungen für einen Wiedereintritt in die Europäische Gemeinschaft auszuhandeln. 

Doch der Unmut über die EU ist virulent. Einer Umfrage des Instituts Epinion für die Zeitung Nyheder zufolge sprechen sich mittlerweile 42 Prozent der Dänen für ein Referendum über den Austritt aus der EU aus. Im Februar waren es nur 37 Prozent.