© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/16 / 17. Juni 2016

Ohnmacht des Staates
Islamismus in Deutschland: Mit Modellprojekten oder der Einführung von Islamunterricht will der Staat dem Fundamentalismus Paroli bieten. Doch der Kampf gegen die hiesigen Dschihadisten steckt noch in den Kinderschuhen
Marc Zoellner

Asif N., so lautet der bislang letzte Name auf einer langen Liste: Kaum achtzehn Jahre war der gelernte Verkäufer alt, als er im September 2014 seine Koffer packte, über die türkische Grenze nach Syrien einreiste und sich der radikalsunnitischen Terrororganisation des Islamischen Staates anschloß. Über ein Jahr lang kämpfte er in Nordsyrien an vorderster Front – gegen konkurrierende Extremistenmilizen wie Jabat al-Nusra, aber auch gegen die kurdische Widerstandsgruppe der YPG, die Selbstverteidigungseinheiten der kurdischen Minderheit in der arabisch geprägten Region. Bis ihn die Kugeln trafen: Am Rücken und den Beinen schwer verletzt, war ihm ein „ehrenhafter Tod“ auf dem Schlachtfeld fortan verwehrt. Asif N. meldete sich daraufhin freiwillig zu seiner äußersten und morbidesten Tat – einem Selbstmordanschlag in der nordostsyrischen Stadt asch-Schaddadi. Ende Februar 2016 sprengte er sich in einer schwarzen Limousine vor einem Kontrollposten in die Luft. Über 50 feindliche Kämpfer, sollte der IS später erklären, hätten dabei den Tod gefunden; ebenso wie Asif N.

Anzahl der Salafisten in Deutschland steigt

„Abu Umar al Almani“, so nannte Asif sich seit seiner Ausreise nach Syrien: „Abu Umar, der Deutsche“. Eine gebräuchliche Bezeichnung für ausländische Dschihadisten im Nahen Osten. Sie symbolisiert das Herkunftsland der jeweiligen Freiwilligen. So wie bei Asif, der ursprünglich aus Hamburg stammte und dessen Lebenslauf so bizarr erscheint wie jener der meisten aus Deutschland stammenden Dschihadisten in den Reihen des IS. Großgeworden in einem römisch-katholischen Haushalt, wandte er sich in seiner Jugend vom Christentum ab und dem Islam zu. Muslime aus seinem Freundeskreis, berichtete er später in einem Videoclip, hätten „sein Herz geöffnet“ und ihn „eines Besseren belehrt“. Drei Jahre lang wurde Asif in der Hansestadt indoktriniert und radikalisiert. Polizeilich aufgefallen ist er jedoch nie; bis schließlich im Herbst 2015, ein Jahr nach Verschwinden des Jungen, der Hamburger Staatsschutz Hinweise auf das geplante Selbstmordattentat Asifs erhielt.

So wie Asif, berichtete die israelische Wochenzeitung Arutz Sheva im Mai online, hätten sich mittlerweile über 820 deutsche Staatsangehörige dem Islamischen Staat in Syrien und im Irak angeschlossen. Rund 140 von ihnen seien dort in Kampfhandlungen getötet worden – so wie  der in Kamerun geborene Florent („Bilal“), der im Kampfgebiet des IS getötet wurde und dem danach am 27. Mai in der Hamburger St. Pauli Kirche in einem umstrittenen Gottesdienst gedacht wurde.

Asifs und Florents Tod wirft Fragen auf, besonders was das islamistische Milieu zwischen Wandsbek und Harburg betrifft. Denn genau hier war es, wo sich Ende der 1990er Jahre die berüchtigte Terrorzelle um Mohammed Atta formierte, welche später, am 11. September 2001, vier blutige Anschläge in den USA anführte, bei denen etwa 3.000 Menschen starben. 

Zwar blieb es um die radikalislamische Szene an der Alstermündung anschließend einige Jahre still. Doch seit dem Ausbruch des syrischen Bürgerkriegs werben erneut salafistische Gruppen verstärkt auf Märkten und in Passagen, an Schulen und in Flüchtlingsheimen um Gläubige, um Konvertiten und Sympathisanten ihrer Bewegung. Zählte der Verfassungsschutz im Jahre 2013 noch 240 radikale Salafisten in der Hansestadt, stieg ihre Anzahl binnen gerade einmal zwei Jahren auf über 460 Personen an. Unter ihnen erschreckend viele Kinder und Jugendliche: Von den neun Tatverdächtigen, welche nach dem Brandanschlag auf die Redaktion der Hamburger Morgenpost in Reaktion auf eine von dieser veröffentlichten IslamKarikatur im Frühling 2015 verhaftet worden waren, war keiner älter als 21 Jahre. Hamburg, konstatierte die liberale Bürgerschaftsabgeordnete Anna von Treuenfels Ende vergangenen Jahres, „entwickelt sich zu einer Hochburg des Salafismus“.

Doch fest steht ebenso: Vor dem Problem der Radikalisierung islamischer Jugendlicher steht Hamburg längst nicht mehr allein in Deutschland. Erst diesen Februar griff eine 15jährige in Hannover mit ihrem Messer einen Polizisten an. Auf ihrem Handy fanden sich später Kontakte zum Islamischen Staat. Auch die drei Attentäter aus dem nordrhein-westfälischen Essen, die im April einen Sprengstoffanschlag auf einen Tempel der hiesigen Sikh-Gemeinde verübten, waren gerade einmal 16 und 17 Jahre alt. „Wir sehen mit rund 8.600 Salafisten in Deutschland seit Anfang des Jahres eine deutliche Steigerung“, erklärte Hans-Georg Maaßen im März dieses Jahres der Zeit. Vor vier Jahren, so der Verfassungsschutzchef, hätte man gerade einmal 3.900 gezählt.

Bisherige Präventionsmaßnahmen gegen das stete Wachstum radikalislamischer Gruppierungen griffen jedoch stets ins Leere, wie das Beispiel der Hamburger Max-Brauer-Schule beweist: Allein fünf der Attentäter auf die Morgenpost hatten in der Vergangenheit diese Bildungseinrichtung besucht. Weitere vier als Schüler eingeschriebene Jugendliche sind seit Anfang 2014 nach Syrien ausgereist; mindestens einer von ihnen wurde mittlerweile im Bürgerkrieg erschossen. 

Blauäugige Regierungsprogramme 

Diskussionsgruppen wie der von den Hamburger Pädagogen im Mai 2014 initiierte Workshop „Islamistisch orientierter Extremismus unter Jugendlichen“ erwiesen sich als fruchtlos. Den Schulen mangelt es, nicht nur in Hamburg, oftmals an Finanzierungsmöglichkeiten, an Unterstützung von seiten der islamischen Gemeinden und insbesondere an speziell ausgebildeten Fachkräften sowie einem bundesweit einheitlichen Bildungskatalog.

Eine Lücke, welche Heinrich Bedford-Strohm gern geschlossen sehen möchte. Die Einführung eines „flächendeckenden Islamunterrichts“ forderte der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland Ende Mai in einem Interview gegenüber der Heilbronner Stimme. Damit, erklärte Bedford-Strohm, könnten gerade junge Muslime „gegen Versuchungen des Fundamentalismus“ immunisiert werden. Überdies könnten die Schüler zeitgleich „neues über den Islam lernen – und das auf dem Boden des Grundgesetzes“, so Bedford-Strohm. „Toleranz, Glaubensfreiheit und Gewissensfreiheit müssen für alle Religionen gelten. Diese Regeln kann man am besten vermitteln, wenn man Religion als Teil des staatlichen Bildungsauftrags sieht.“

Der Vorstoß des EKD-Präsidenten ist so neu nicht: Bereits 2010 rief der Wissenschaftsrat, ein der Bundesregierung beratend zur Seite stehendes Gremium aus Experten verschiedenster Disziplinen, zur Gründung von Instituten für „Islamische Studien“ auf. Ziel des Rats war, wie auch im Falle Bedford-Strohms, die Grundsteinlegung für einen deutschlandweit vereinheitlichten Religionsunterricht für Schüler muslimischen Glaubens. Dazu, schätzte das Bundesbildungsministerium in einer Erklärung von 2011, benötigen die Bundesländer wiederum rund 2.000 hauptamtliche Lehrkräfte.

Eine rasche Förderung dieser Idee hatte Annette Schavan, damals Chefin des Ministeriums, den Hochschulen daraufhin zugesagt. Modellprojekte entstanden an den Universitäten von Osnabrück, Tübingen und Münster. Bis heute flossen über 20 Millionen Euro an die Islaminstitute von einem halben Dutzend Hochschulen. Zumindest die Bundesregierung ist voll des Lobes für ihr Programm: „Genau das brauchen wir in Deutschland“, erklärte die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration Aydan Özoguz Anfang Mai zur Eröffnung des neuen Seminars für Islamische Theologie an der Uni Paderborn. „Eine moderne theologische Ausbildung in Islamwissenschaften in deutscher Sprache.“

Wie weit Regierungsanspruch und Bundeswirklichkeit allerdings auch unter den inzwischen 1.800 in den Fakultäten eingeschriebenen Studenten auseinanderklaffen können, erklärte Abdel Hakim Ourghi in der Süddeutschen Zeitung: „Da kommen junge Leute, überwiegend Frauen, die sich eine fromme Predigt wünschen, aber keine wissenschaftliche Auseinandersetzung“, schreibt der Abteilungsleiter für Islamische Theologie an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Die seien dann „völlig verunsichert, wenn sie hören, daß es verschiedene Lesarten des Korans gibt“. Die ideologische Reibung zwischen Studenten und Lehrkräften und der vorherrschende Diskursmangel bezüglich der Auslegung des Koraninhalts machen sich inzwischen selbst derart bemerkbar, daß von einigen Studierenden „unsere Autorität als Hochschullehrer in Frage gestellt“ würde, berichtet Ourghi.

Das ist nicht ganz der von Özoguz gewünschte Effekt. Doch immerhin stellt die einsetzende Ausbildung islamkundiger Fachkräfte einen dringend benötigten Ansatz dar. Seit der Mahnung des Wissenschaftsrats konnten gerade einmal sechs der sechzehn deutschen Bundesländer einen Islamunterricht in ihren Schulen etablieren. Im Sommer 2012 wagte Nordrhein-Westfalen den Vorstoß; sehr wohl auch aus pragmatischen Gründen: Zählte man zwischen Münster und Köln Ende der 1990er Jahre noch rund 190.000 Schüler muslimischen Glaubens, stieg ihre Zahl bis 2013 auf über 273.000 an und überschritt Anfang dieses Jahres sogar die Marke von 320.000 Pennälern.

Islamverbände behindern einheitliches Vorgehen

Der Bedarf an Lehrkräften wächst parallel zum Milieu – und in Nordrhein-Westfalen stehen bislang gerade einmal 64 Lehrer zur Verfügung. Doch auch jener an außerschulischen Netzwerken, an nachmittäglichen Ersatzprogrammen und ebenso an Anlaufstellen, um Kinder und Jugendliche noch während ihres Radikalisierungsprozesses aufzufangen. 

In Hessen setzt das Innenministerium deshalb auf externe Beratungsstellen wie das „Violence Prevention Network“. In diesen interkulturellen Kursen für Schüler der neunten und zehnten Klasse debattieren Christen, Juden und Muslime über tagesaktuelle Ereignisse, ebenso wie über die Grundlagen der drei monotheistischen Weltreligionen. „Hier geht es darum, zu zeigen, daß es dabei mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede gibt“, erklärte die Projektleiterin Cornelia Lotthammer im Interview mit dem Onlinemagazin news4teachers.de. „Damit entzieht man von vornherein falschen Behauptungen den Nährboden.“

Gemeinsam mit dem Staat, fordert Bedford-Strohm, sollten aber auch die islamischen Verbände Deutschlands in die Pflicht genommen werden zumindest „daß die Muslime in Deutschland sich so aufstellen, daß es klare Ansprechpartner für den Staat gibt“, so der EKD-Vorsitzende.





IS-Propaganda im Internet: Das Dabiq-Hochglanzmagazin

Wie  keine ihrer Vorgängerorganisationen versteht es der Islamische Staat (IS), auch das Internet für sich zu nutzen. Verheißungsvolle Werbung von einem erfüllten Leben im Kalifat wird dabei ebenso zur Rekrutierung des Nachwuchses in Europa und Nordamerika gestreut wie professionell geschnittene Videos von „Märtyreroperationen“ und Interviews mit Terrorfreiwilligen. Mit Dabiq publiziert der IS seit Juli 2014 sogar ein eigenes Onlinemagazin. Dessen Inhalte: der Siegeszug des IS, Hochglanzbilder von martialisch bewaffneten Dschihadisten 

auf dem Schlachtfeld und in Siegerposen, die Glorifizierung von Terrorakten wie zuletzt in Brüssel und Paris sowie detaillierte Anleitungen für „lone wolves“, für Einzeltäter in den Industrienationen, um Terrorakte auch im kleinen Rahmen nachzuahmen. Sechzehn Ausgaben des Dabiq sind mittlerweile erschienen und finden – nicht nur unter muslimischen Jugendlichen – rasante Verbreitung im Darknet, dem unkontrollierbaren Teil des Internet..