© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/16 / 17. Juni 2016

Pankraz,
Chris Walsh und das Gesicht der Feigheit

Sind Feiglinge bessere Menschen? Braucht die demokratische Gesellschaft, um gedeihen zu können, mehr Feiglinge, als sie ohnehin schon hat? Muß der Ethikunterricht an den Schulen umgestellt werden, mit dem Feigling als zentraler Tugendfigur, an der sich schon die Erstkläßler ein Vorbild nehmen sollen? Ein Buch des bekannten Biochemikers und Mediziners Chris Walsh von der Harvard-Universität im US-Staat Massachusetts, Titel: „Cowardice“ („Feigheit“), legt das neuerdings nahe. Ins Deutsche übersetzt ist es noch nicht, findet aber auch hierzulande via Amazon besten Absatz.

Walsh nennt sein Opus „eine evolutionäre Ehrenrettung der Feigheit“. An sich werde der Feigling ja in faktisch allen Kulturen verachtet und verhöhnt, „Feigheit vor dem Feind“ gelte im Krieg sogar als schweres Verbrechen und werde oft mit dem Tode bestraft. Einzig das „Heldentum“ werde als Moment erfolgreicher Evolution herausgestellt und gefeiert, dabei sei es hoch an der Zeit, endlich einmal über den Evolutionswert der Feigheit nachzudenken. Feiglinge seien nicht unbedingt geborene Angsthasen, sondern sie könnten auch durchaus schlaue, scharf kalkulierende Evolutionsstrategen sein. 

Zitat: Walsh: „Das, was wir ‘Feigheit’ nennen, ist in der Natur ein wichtiges Prinzip der Anpassung und der Selektion (…) Es kommt darauf an, sich darauf zu besinnen, wie wir uns verhalten sollten und welche Ängste uns davon abhalten. Wie wir lieben, wer und wo wir sind, was wir tun, was wir denken, sogar was wir wissen und uns zu wissen erlauben – manchmal scheint es, als würde all das von aufgebauschten Ängsten und Pflichtvermeidungen geformt, die so lange aufrechterhalten wurden, bis sie zur Normalität wurden. Über Feigheit zu reflektieren, kann helfen, sie zu überwinden.“


Ähnlich wie Walsh hat das vor Jahr und Tag schon der deutsche, in Göttingen lehrende Soziologe Wolfgang Sofsky gesehen, wenn auch gewissermaßen mit umgekehrtem ethischen Vorzeichen. Walsh lobt faktisch die überall in der Demokratie um sich greifende Feigheit; Sofsky beklagt sie. Nur noch Rennfahrer, Bergsteiger, Abenteuerurlauber und manchmal auch Feuerwehrleute müssen mutig sein, sagt er, ansonsten seien Mut und Tapferkeit „nur noch etwas für Dummköpfe und Draufgänger, nicht für skeptische Bürger: Sie sind längst außer Kurs gesetzt. Feigheit schändet nicht mehr, sondern beweist angeblich Besonnenheit.“

Ist das aber wirklich so? Sind Mut und Tapferkeit wirklich nur noch etwas für Dummköpfe, ist der eifrig sich an irgendwelche „Trends“ anpassende Feigling wirklich zur Leitfigur der modernen Demokratie geworden, repräsentiert er wirklich gar den alerten Evolutionsstrategen à la Chris Walsh, der sich im Einklang mit der Natur befindet? Davon kann im Ernst, meint Pankraz, nicht die Rede sein. Wer den Feigling in solche Höhen hebt, der vergeht sich buchstäblich an jeder Form von vernünftigem menschlichem Zusammenleben und sät den Keim für Dekadenz und sozialen Untergang.

Mut wie Feigheit, konstatierte seinerzeit Sofsky ganz richtig, sind Formen des Handelns, nicht Formen des bloßen unverbindlichen Empfindens. Das unterscheidet sie vom Zustand der Angst; diese ist kein Nebenprodukt verächtlicher Feigheit, sondern unabtrennbarer Bestandteil jeglichen Menschseins. Auch der Mutige hat Angst, doch er liefert sich ihr nicht aus wie der anpasserische Feigling, er bedenkt die jeweiligen, Angst (und Sorge) bereitenden Zustände und wägt genau ab, wo man sich ihnen anpassen muß – und wo es eventuell eigene Entscheidungen zu treffen und energisch Widerstand zu leisten gilt.

Genau dieser Wille zum bewußten Widerstand unterscheidet den Menschen vom Tier, macht seine Exzellenz und Kulturfähigkeit aus. Alle übrige Kreatur kennt nur die Furcht vor gewissen Situationen, die relativ leicht zu beschwichtigen ist. Man lernt, wo Schmerzen oder sonstige Miserabilitäten drohen und richtet sich darauf ein, meidet die Verursacher, schätzt Risiken ab, bleibt im übrigen gelassen. Todesfurcht und Philosophieren darüber kennt man nicht; diese sind dem Menschen vorbehalten – und bei ihm heißen sie Angst.


Der Wille zum Widerstandleisten aber ist der Kern des Mutigseins. Und Sofsky hat natürlich recht: Die gegenwärtigen politischen Zustände in Deutschland sind für den Mutigen außerordentlich schlecht, begünstigen exklusiv den Feigling. Die Mutigen und Tapferen ihrerseits haben alle Hände voll damit zu tun, ihre Position überhaupt noch erkennbar zu markieren. Widerspruch formulieren läßt sich wohl noch in gewissen Wissenschaftsräumen, Redaktionen, Gesprächskreisen, freilich unter zunehmender Androhung von nackter Gewalt. Weil die Feigen nicht handeln wollen, dürfen die Mutigen nicht handeln, dafür ist gesorgt.

Was das alles mit dem von dem Evolutionsbiologen Chris Walsh so sehr gepriesenen „Evolutionswert der Feigheit“ zu tun hat, bleibt dessen ganz eigenes Geheimnis. Sein Buch „Cowardice“ liefert darüber jedenfalls keinen Aufschluß. Daß sich die Evolution, also der Rhythmus aus Mutation und Selektion, immer nur zum Besseren und Höheren hinwendet, wagte nicht einmal Selektionsenthusiast Charles Darwin zu behaupten. Es gibt sowohl in der natürlichen wie in der menschlich-kulturellen Entwicklung die schrecklichsten Abgründe, und viele einst blühende Arten werden immer wieder regelrecht vernichtet.

Daß ausgerechnet eine von Feiglingen aus Dummschlauheit beförderte Selektion zu „höheren“ Kultur- und Naturzuständen führen wird, ist nichts weiter als eine Schnapsidee, befördert vom übermäßigen Schnapsgenuß angemaßter „Eliten“, die sich immer ungenierter als „Gewissen der Menschheit“ aufführen und damit ihre Machtgelüste befriedigen. Auf sie trifft zu, was einst Oscar Wilde so formulierte: „Gewissen und Feigheit sind in Wirklichkeit ein und dasselbe. Gewissen ist nur der öffentliche Geschäftsname der Doppelfirma.“