© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/16 / 17. Juni 2016

Vom Wesen der deutschen Kunst
Vorbild anderer Völker
Sebastian Hennig

Vor zwei Wochen hat an dieser Stelle Karlheinz Weißmann die Frage nach dem Deutschen mit der Feststellung verknüpft, wir hätten erst spät damit begonnen, Rechenschaft über unsere Bestände zu geben und deren Geltung und Belastbarkeit zu prüfen. Mit einer Aussage von Friedrich dem Großen schließen seine Betrachtungen. Der meinte, als Nachzügler könnten die Deutschen von ihren Vorgängern lernen, diese zu übertreffen. Des Königs Worte gipfeln in der Verheißung: „... unsere Nachbarn werden Deutsch lernen.“ Dabei fühle er sich wie Moses, der das gelobte Land in der Ferne erblickt, ohne es selbst noch betreten zu können.

Wenn wir bei diesem Bild bleiben, wäre festzustellen, daß wir uns unterdessen, im physischen wie im psychischen Sinne, in der Zerstreuung befinden. Die Halle des Tempels ist zerstört. Doch die großen Quader des Fundamentes stehen unverrückbar. Sprechen wir dort ein Gebet und klemmen auch diese Zeitungsseite in die Ritzen der Mauer.

Als Nachzügler übertrafen wir unsere Vorgänger im letzten Jahrfünft vor dem Zusammenbruch des Reiches, als mit ohnmächtigem Machttrotz beinahe alle Teufel überteufelt wurden. Nach dem Krieg beruhte das Selbstbewußtsein des Deutschen dann auf präzise gefertigten Prothesen. Er war bald nicht länger hilflos, blieb dafür aber ratlos wie nie zuvor. Unser Lebendiges – Herz, Geist und Seele – verharrten jahrzehntelang in einer Winterstarre. Die Chance der Wiedervereinigung wurde zunächst vertan und die Wirtschaft als ein Krieg mit anderen Mitteln weitergeführt. Nun, wo auch deren Flor dahinzuwelken beginnt, werden wir prüfen müssen, ob die Wurzeln gekappt sind.

Hans-Jürgen Syberberg hat das bereits 1990 in seinem Buch „Vom Unglück und Glück der Kunst in Deutschland nach dem letzten Kriege“ getan. Seine Blickrichtung könnte uns guttun. Denn bei aller Achtung vor der Wertarbeit des deutschen Ingenieurs, bereichert die Ausbreitung der Technologie die Menschen um nichts Wesentliches. Anders ist es mit der Kunst beschaffen. Der Dichter Gottfried Benn sagte am Ende seines Lebens: „Die Kunst, wenn sie Wirkung hat, wenn sie fasziniert, verändert den Menschen in einer Richtung, daß er sich sagt: Die ganzen Fragen des Sozialen, des Kommunistischen, des Politischen fallen in gewissen Stimmungen und Stunden von uns ab, und da tritt ein ganz anderes Leben plötzlich zutage – ein Leben, das wir kaum noch kennen heutzutage, das aber der Grund ist, weswegen wir überhaupt leben.“

Für einen Augenblick sollten wir die Ziffern aus den Augen lassen, die Demographie und die Sozialsysteme, und statt dessen die Kultur Deutschlands und dessen Kulturfähigkeit betrachten. Da besteht nicht der geringste Grund zur Sorge. Wie es Friedrich der Große vorhersah, ist Deutschland darin seit zweihundert Jahren überlegen und vorherrschend. Mag uns das zuweilen auch nur wie ein Nachhall erreichen, so ist doch durch Waffenklang und Motorenlärm bis heute kein gültigeres Signal gedrungen.

Was bei jedem anderen Volk als überspanntes Sendungsbewußtsein wirkte, dürfen wir gelassen in Anspruch nehmen. Deutschland war der Arrangeur der Symphonie der europäischen Völker. Die Umarmung dieser Kunst erdrosselt niemanden.

Beinahe ist es ein Oxymoron, von deutscher Musik, deutscher Dichtung und deutscher Kunst zu sprechen. Was bei jedem anderen Volk als überspanntes Sendungsbewußtsein wirkte, dürfen wir gelassen in Anspruch nehmen. Wer wollte Goethes Bedeutsamkeit mit der von Sándor Petofi, William Words­worth oder Karel Hynek Mácha gleichsetzen, jene von Richard Wagner mit der von Ferenc Erkel, Arthur Sullivan oder Bedrich Smetana und Caspar David Friedrich mit Mihály von Munkácsy, John Constable und Josef Mánes? Was diese Meister für die Kunst ihres Volkes auch bedeuten mögen, es steht hier über der Kollegialität jeweils die Kausalität.

Von den Späteren auf deren Spezialgebiet überholt, ist die deutsche Kultur in Sprache, Klang und Bild die eigentliche Weltliteratur geblieben. Deutsche Künstler waren die Arrangeure der Symphonie der europäischen Völker. Mit Kulturimperialismus, wie ihn einst der französische oder italienische Stil über Europa ausübte, geschweige heute die unfruchtbare Entkrampfung anglo-amerikanischer Kulturlosigkeit, hat diese Kunst nichts gemein. Ihre Umarmung erdrosselt niemanden. Sie setzt die anderen frei und läßt uns selbst erst dadurch zu uns kommen.

Sie ist mehr als die Nationalkultur aller deutschen Stämme. Hüten wir uns, hier national werden zu wollen im Sinn moderner Staaten, deren Nationalkultur oft nicht mehr als bunte Folklore ist. Das Deutsche erfüllt keine nationale, sondern eine universale sittliche und kulturelle Wirklichkeit. Oder es wird nicht sein. Unter der grauen Tünche der Pseudokultur und dem soziologisierenden Palaver liegt immer noch das Fresko der Weltkulturblüte deutscher Provienienz. Der Wurzelstock ist fruchtbar noch, aus dem das sproß.

Verstricken wir uns also nicht zu sehr in die Inventur von zufällig noch als gegenwärtig vorgefundenen speziellen Eigenschaften. Abgesehen vom unentbehrlichen staatsrechtlichen Schutz ist das Konzept der Nation zu beschränkt und zu antiquiert für den Katalog der unabsehbaren Fülle unserer Kultur. Die kleinen Unterschiede in einer immer unterschiedsloseren Welt werden bedeutungslos gegenüber dem kolossalen Unterschied, mit dem die Deutschen die Eigenschaften der anderen umfassend zu feiern imstande sind und worin sie in ihrer Epoche die Ersten und die Letzten sind: in der Kunst. Das Deutsche wurde das Orakel der Selbsterkenntnis der Völker.

Kraft bezieht die Kunst der Deutschen daher, daß sie sich fremdes Wesen anverwandeln kann. Dadurch wird sie wiederum zum Vorbild anderer Völker, belebt und regt deren Selbstgefühl. Deutsche haben diesen Floh in jedes Ohr gesetzt, sogar in die amerikanischen der Melville, Hawthorne und Poe, die nun von ihrem Volk wiederentdeckt werden müssen. Der ungarische Nationalmaler Mihály von Munkácsy ist eigentlich ein Bayer mit Namen Michael Lieb und damit nur geringfügig ungarischer als der Liszt Ferencz aus dem Burgenland. Das erste Wörterbuch der tschechischen Sprache, wichtigster Rohstoff und Anknüpfungspunkt der tschechischen Poesie, verfaßte der Deutsche Josef Jungmann. Die nationaltschechische Turnerbewegung Sokol wurde von Miroslav Tyrš alias Friedrich Thiersch gegründet. Aus Musäus’ „Libussa“ und Clemens Brentanos „Die Gründung Prags“ tritt der Mythos der Tschechen hervor. Da sind Friedrich Rückerts Übertragungen der Makamen des Al Hariri, zu denen sein französischer Kollege Baron Silvestre de Sacy meinte: „Dank Ihnen wird nun jemand, der Deutsch kann, nicht mehr Arabisch zu lernen brauchen, um sich eine rechte Vorstellung von allem zu machen, was es in dieser Art an orientalischen Werken gibt.“ Kein Ding sei, wo das Wort gebricht, dichtete Stefan George, der in Paris zuerst im Kreis um Mallarmé verkehrte.

Nahezu alle National-komponisten der skandinavischen und slawischen Völker nahmen den Weg zur Melodie ihrer Völker durch das Konservatorium von Leipzig und hatten später ihre wichtigsten Auftritte abermals in Deutschland.

Nichts wäre also gegen eine Globalisierung einzuwenden, sobald diese nicht im Kauderwelsch erfolgt, sondern auf deutsch. Bekennen wir unser Eigenes, das allen zugehört. Im Mitteilen bleibt zuletzt für uns allein nur die Verantwortung zurück, dieses zu bejahen. Befreien wir uns dazu, befreien wir die Welt aus dem Korsett des banausischen Materialismus.

Zu den Versammlungen der Pegida war auf einem riesigen Bildschirm in der Exedra über dem Haupteingang der Semperoper in Dresden zu lesen, daß es sich bei den aufgeführten Komponisten um Ausländer handele. Unter anderem wurde da Richard Strauss als Bayer vorgestellt. Gehen wir vom Speziellen ins Universale: Warum sollten nicht auch die Tschechen und Ungarn randständig zu jenem Reich des Deutschen gehören, das eine so vielzüngige und bunte Stammesgemeinschaft bildet? Der schlesische Mährer Leoš Janácek war immerhin Mitglied der Preußischen Akademie der Künste. Nahezu alle Nationalkomponisten der skandinavischen und slawischen Völker nahmen den Weg zur Melodie ihrer Völker durch das Konservatorium von Leipzig und hatten später ihre wichtigsten Auftritte abermals in Deutschland.

Nehmen wir die nichtssagende Propaganda beim Wort, stellen wir fest, daß sich tatsächlich eine ganze Konzertsaison nur mit Werken aus dem deutschsprachigen Raum bestreiten ließe, von Johann Sebastian Bach bis Hans Werner Henze, ohne damit einen dürftigen Eindruck zu bewirken. Denn selbst die italienische Oper wäre dabei noch durch Hasse, Gluck und Händel ehrenvoll vertreten. Wenn jedoch über einen solchen Zeitraum gar keine deutsche Musik zur Aufführung gelangte, wäre der Mangel viel rascher spürbar.

Amerikanische Soldaten langten am 30. April 1945 in Garmisch-Partenkirchen an, um in der Villa von Richard Strauss ein vorübergehendes Hauptquartier einzurichten. Der achtzigjährige Hausherr trat ihnen auf der Schwelle mit den Worten entgegen: „I am the composer of ‘Der Rosenkavalier’ and ‘Salome’.“ Nachdem ihnen der alte Mann am Klavier Auszüge aus seinem berühmtesten Werk vorgespielt hatte, suchten die Soldaten sich eine andere Unterkunft.

Wie anders verhalten wir uns selbst inzwischen. Als vor drei Jahren die Stadt Halle an der Saale vom Hochwasser heimgesucht wurde, sagte der Oberbürgermeister zum ersten Mal seit deren Bestehen die Händel-Festspiele ab: „Wir können nicht feiern, wenn wir einen Katastrophenfall haben.“ Dabei waren die Spielstätten unbeschädigt.

Die Kunst ist keine frivole Zugabe. Sie markiert das Fundament unseres Seins. Mit ihr beschreiben wir unser Leben als geglückt. Während die Theater des Reiches nacheinander in den Bombenschutt fielen, dichtete der greise Gerhart Hauptmann im jambischen Versmaß an seiner „Elektra“, die posthum am Deutschen Theater in der Sowjetischen Besatzungszone Berlins uraufgeführt wurde. Die Feier der Kunst ist der einzige Weg, der uns der Katastrophe entführt, weil er mit dem Grund des Seins versöhnt. Das ist die Lehre, welche die Deutschen mit ihrer Kunst den Völkern gegeben haben. Hölderlins Hymne „Germanien“ schließt mit den Versen: „Und gerne, zur Erinnerung, sind / Die unbedürftigen, sie / Gastfreundlich bei den unbedürftgen / Bei deinen Feiertagen, / Germania, wo du Priesterin bist / Und wehrlos Rat gibst rings / Den Königen und den Völkern.“






Sebastian Hennig, Jahrgang 1972, ist Maler, Kunstkritiker und Publizist. Er studierte von 1992 bis 1998 Malerei und Graphik an der Hochschule für Bildende Künste Dresden. Zuletzt veröffentlichte er die Künstlermonographie „Ernst Lewinger. In Verbundenheit schwebend 1931–2015 “, Arnshaugk-Verlag, 2016.

Foto: Ausschnitt aus „Goethe in der Campagna“ von Johann Heinrich Wilhelm Tischbein in der Verfremdung durch Andy Warhol (1981): Deutsche Kultur in Sprache, Klang und Bild ist die eigentliche Weltliteratur geblieben. Sie setzt die anderen frei und läßt uns selbst erst dadurch zu uns kommen