© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/16 / 17. Juni 2016

Gipfeltreffen mit eigenwilligem Kollaborateur
Eine mißlungene Neuinterpretation des politischen Aktivisten Knut Hamsun
Wolfgang Müller

Am 7. Mai 1945, dem letzten Tag des Zweiten Weltkrieges in Europa, erschien auf der Titelseite der Osloer Aftenposten ein kurzer Nachruf auf Adolf Hitler. Der deutsche Reichskanzler, der sich eine Woche zuvor erschossen hatte, wird darin als „Krieger für die Menschheit“, „Verkünder des Evangeliums vom Recht für alle Nationen“ und „reformatorische Gestalt von höchstem Range“ gewürdigt. Es sei sein historisches Schicksal gewesen, daß er habe wirken müssen in einer Zeit beispielloser Roheit, die ihn schließlich gefällt habe. „So wird der gewöhnliche Westeuropäer Adolf Hitler sehen, und wir, seine treuen Anhänger, neigen nun unser Haupt angesichts seines Todes.“ Unterzeichnet war der knappe Nekrolog mit dem Namen des Literaturnobelpreisträgers von 1920, Knut Hamsun.

Ungläubig, sicher auch empört dürften viele Aftenpost-Leser auf diesen Text reagiert haben. Aber die Mehrzahl nahm ihn wohl achselzuckend als konsequenten I-Punkt der Karriere des prominentesten Verteidigers der deutschen Besatzungsherrschaft in Norwegen, des „Landesverräters“ Hamsun wahr, den man auch ohne die Provokation einer solchen Eloge gleich nach Abzug der Wehrmacht zur Verantwortung ziehen würde. Tatsächlich begann die juristische Ahndung des prodeutschen Engagements des 85jährigen Kollaborateurs schon im Juni 1945. Ein psychiatrisches Gutachten bewahrte ihn dann zwar vor dem allseits erwarteten Strafprozeß, aber ein Entschädigungsverfahren trieb den greisen Schriftsteller so tief in den Ruin, daß er auf seinem faktisch enteigneten Besitz, Gut Nörholm in Süd-Norwegen, nur noch den Tod erwartete, der sich im Februar 1952 schließlich einstellte.

Als exemplarisch für das Verhältnis von Geist und Macht, Kunst und Politik im „Zeitalter der Extreme“ ist der „Fall Hamsun“ bis heute fleißig traktiert worden. Nur scheinbar beruhigte sich der Streit der Meinungen nach der 1996 verfilmten, auf Archivmaterial und Zeitzeugen-Interviews gestützten, glänzend geschriebenen Hamsun-Biographie des Dänen Thorkild Hansen (1978). Zu sympathisch wirkte indes der Hollywood-Star Max von Sydow in der Rolle des knorrigen NS-Sympathisanten auf Nörholm, um nicht neuerliche Versuche zu beflügeln, Hansens Porträt unter Apologie-Verdacht zu stellen und zu revidieren.

Doch in den seitdem vorgelegten Studien, vor allem in Ingar Sletten Kolloens monumentaler, 2011 im Landt Verlag leider in stark gekürzter deutscher Fassung veröffentlichten Durchleuchtung der widersprüchlichen Dichterpsyche und ihres vielschichtigen Werkes (JF 28/11) verfestigte sich stattdessen das tendenziell positive Bild Hansens soweit, daß Hamsun ungeachtet „politischer Irrtümer“ heute wieder als einer der größten unter Europas Epikern seiner Generation anerkannt ist. Eine nicht hinnehmbare Rehabilitierung, bemängelte der Osloer Anglist Tore Rem, der deswegen in die Archive ging, um bisher unbeachtetes Material aufzuspüren und bekannte Dokumente „kritisch zu prüfen“, damit der „Fall Hamsun“ erneut aufgerollt werden kann.

Ungeachtet ausführlicher Rückblicke in die karge Kindheit und Jugendzeit des Schneidersohnes, rückt daher bei Rem, wie bei Hansen, Hamsuns letzter Lebensabschnitt seit Frühjahr 1940, als die Wehrmacht den Wettlauf gegen die Westalliierten gewann und Norwegen besetzte, ins Zentrum der – übrigens vom Verlag vorzüglich ausgestatten, reich illustrierten – Darstellung. Dabei geht es ihm ausdrücklich darum, den Stoff, aus dem Hansen angeblich cineastisch tradierte „Mythen“ webte, „komplexer“ aufzubereiten. Denn die einflußreiche Deutung des dänischen Autors sei allzu bestrebt, Hamsuns Selbstbild zu kolportieren, wonach für geniale „Ausnahmemenschen“ gewöhnliche moralische Maßstäbe nicht gelten würden. 

Hamsuns Œuvre vermittle eine „totalitäre Weltsicht“

Darum beschädige bei ihm Hamsuns politisches Agieren zugunsten des NS-Regimes nicht sein Künstlertum. Rem hingegen behauptet, ohne in die detaillierte Analyse des literarischen Werks einzusteigen, die „faschistische“ Option Hamsuns, die Sympathieerklärungen von Mussolini und Hitler lange vor 1933, resultiere zwangsläufig aus dem vormodernen Weltbild seines erzählerischen Universums. Enthielte doch sein mit dem Nobelpreis gekrönter Roman mit dem geradezu programmatischen Titel „Segen der Erde“ (1917), in seinem „Schicksalsland Deutschland“ 250.000mal verkauft, alle Bestandteile, die zur „rechtsradikalen“ Rezeption einlüden: Verklärung von Blut und Boden, nordischer Rasse und Germanentum, kategorische Ablehnung von Amerikanismus und Demokratie, „angelsächsischer“ Ökonomisierung und Liberalisierung sämtlicher Lebensbereiche. 

Wie die Lobeshymnen von Kafka bis Brecht, von Gorki bis zu Thomas Mann belegen, sind selbstredend auch linke und liberale Hamsun-Lektüren möglich. Aber für Rem, der, entgegen seiner Ankündigung, Komplexität nicht steigert, sondern reduziert, vermittelt das Œuvre primär nur eine „totalitäre Weltsicht“, wie sie einem „konstitutionellen Nazi“ eigen sei. Mithin gelangt Rem bei der Bewertung des dramatischen Höhepunkts der Beziehungsgeschichte zwischen Hamsun und dem NS-Regime, der Audienz, die Hitler dem Dichter am 26. Juni 1943 auf dem Obersalzberg gewährt, zu einem Urteil, das der von Hansen begründeten und weithin akzeptierten Exegese des Gesprächsprotokolls kraß widerspricht. 

Der Däne betont den Gegensatz zu Hitler in Hamsuns mutigem Eintreten für Norwegens Souveränität im „großgermanisch“ geordneten Nachkriegseuropa, sein störrisches Drängen auf Ablösung des nur den norwegischen Widerstand anstachelnden Reichsbevollmächtigten Josef Terboven, seine ungezügelte, vom ängstlichen Dolmetscher partiell sogar unterdrückte Kritik an dessen brutalen Polizeimethoden sowie die erfolgreiche Bitte um Freigabe zweier zum Tode verurteilter Geiseln. Rem jedoch schüttet diese Gräben flink zu, um zu resümieren, die „Reise zu Hitler“, eine pure Propagandashow, habe geendet wie das Hornberger Schießen, was bei der prinzipiellen ideologischen Übereinstimmung zweier „Nazi“-Charaktere nicht verwundere.   

Mit seiner penetrant moralisierenden Neuinterpretation der politischen Figur Knut Hamsun landet Rem also bei altbackenen, längst überwundenen, stramm „antifaschistischen“ Schwarz-Weiß-Positionen der 1950er Jahre. Dazu paßt seine Bibliographie, die wenig von der seriösen Literatur zum Kontext, zur Besatzungszeit in Norwegen oder zur Geschichte der europäischen Kollaboration, ausweist, dafür aber erstaunlich viel Halbseidenes aufführt, das der des Deutschen – ebenso wie Hamsun – offenbar nicht mächtige Verfasser vornehmlich aus US- und übersetzter bundesdeutscher Produktion bezieht, wobei man zwischen Titeln wie „The Perverse Logic of Nazi Thought“ oder „Eva Braun. Life with Hitler“ nur noch Erzeugnisse aus der Edelfeder des TV-Professors Guido Knopp vermißt.  

Tore Rem: Knut Hamsun. Die Reise zu Hitler. Verlag Neues Berlin, Berlin 2016, gebunden, 399 Seiten, Abbildungen, 29,99 Euro