© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/16 / 24. Juni 2016

„Im Grunde belanglos“
Leipziger „Mitte-Studie“: Rechtsextremismusforscher zeichnen ein alarmistisches Bild einer polarisierten deutschen Gesellschaft / Kritik an suggestiven Fragen
Christian Vollradt

Drangvolle Enge herrscht in dem bis auf den letzten Stehplatz gefüllten, fensterlosen Tagungsraum der Bundespressekonferenz. Nur mit Mühe sorgt die Klimaanlage für ausreichend Sauerstoff. Nicht nur die Temperatur, auch das Thema ist offensichtlich heiß. Was so viele Journalisten hierher gelockt hat, ist die Vorstellung einer Studie mit dem Titel: „Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellungen in Deutschland“. Vorgelegt wird diese sogenannte „Mitte-Studie“ seit 2002 alle zwei Jahre von einer Arbeitsgruppe der Universität Leipzig unter Federführung des Psychologieprofessors Elmar Brähler sowie des Vorstandssprechers des Kompetenzzentrums für Rechtsextremismus- und Demokratieforschung, Oliver Decker. 

Rund 2.000 Bundesbürgern in West und Ost wurden dazu zum einen Fragebogen vorgelegt, zum anderen wurden mit ihnen Interviews geführt. 

Sechs Kriterien haben die Leipziger Forscher für die Bemessung rechtsextremer Gesinnung zugrunde gelegt: Befürwortung einer rechtsautoritären Diktatur, Chauvinismus, Ausländerfeindlichkeit, Antisemitismus, Sozialdarwinismus und die Verharmlosung des Nationalsozialismus. Zu jedem Kriterium wurden den Befragten drei Fragen mit je fünf möglichen Antworten vorgelegt – abgestuft von „lehne voll und ganz ab“ bis „stimme voll und ganz zu“. 

Sichtlich überrascht sind dann die meisten der anwesenden Medienvertreter, als ihnen zwei unerwartete Ergebnisse präsentiert werden: Trotz Masseneinwanderung habe die generelle Ausländerfeindlichkeit nicht zugenommen. Und es sei auch kein Anstieg rechtsextremer Einstellungen zu verzeichnen. Allerdings sei eine Polarisierung festzustellen. Das heißt, diejenigen, die schon immer gegen Ausländer waren, seien jetzt lauter und offensiver geworden, auch wenn ihre Anzahl nicht zugenommen habe. 

Aber, so reichen Elmar Brähler und Oliver Decker als Herausgeber der Studie gleich nach, das alles sei kein Grund zur Entwarnung. Denn zugenommen habe die sogenannte gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit, und die richte sich vornehmlich gegen Muslime, gegen Sinti und Roma sowie gegen Asylbewerber. 

Festgemacht wird dies an der Zustimmung zu Aussagen wie „Durch die vielen Muslime hier fühle ich mich manchmal wie ein Fremder im eigenen Land“ (50 Prozent) oder „Bei der Prüfung von Asylanträgen sollte der Staat nicht großzügig sein“ (80,9 Prozent) sowie „Sinti und Roma neigen zu Kriminalität“ (58,5 Prozent).?

Vor allem die Art der Fragen und ihre Zuordnung sind es, die Kritiker am Aussagewert der Studie sowie am Alarmismus, den sie hervorruft, zweifeln lassen. „Wir sollten endlich wieder Mut zu einem starken Nationalgefühl haben.“ 35,4 Prozent stimmen dieser Aussage zu; für die Leipziger Rechtsextremismusforscher bereits ein hinreichendes Merkmal für Chauvinismus. Und was soll man auf eine so pauschale Frage antworten wie die zur Bemessung von Ausländerfeindlichkeit: „Die Ausländer kommen nur hierher, um unseren Sozialstaat auszunutzen?“ Auf alle trifft das sicher nicht zu, auf einige jedoch durchaus. Durchschnittlich 32,1 Prozent der Befragten sehen es so. 

Eindeutiger sind dagegen die Fragen zu Antisemitismus und Nationalsozialismus. Hier verzeichnen die Befrager eine sehr geringe Zustimmung, die zudem über die Jahre immer weiter abgenommen habe. Unter sechs Prozent der Befragten stimmen der (hypothetischen) Aussage zu, wonach man „ohne Judenvernichtung Hitler heute als großen Staatsmann ansehen“ würde. Und Mitautor Elmar Brähler stellt hinsichtlich der geringen Zustimmungswerte zu antisemitischen Aussagen in Deutschland im Vergleich zu manchen europäischen Nachbarn sogar fest: „Was den Antisemitismus angeht, so leben wir auf einer Insel.“ 

Kritik an der Studie kommt vom Berliner Extremismusforscher Klaus Schroeder: „Dieser Titel überzeichnet die Situation völlig. Er ist übrigens auch durch die Ergebnisse der Befragung nicht gedeckt. Das ist ein reißerischer Titel, der Aufmerksamkeit bringen soll, denn die Ergebnisse sind im Grunde genommen belanglos.“ Tatsächlich könnten nur etwa fünf Prozent der Befragten als rechtsextrem eingestuft werden. „Das ist der geringste Wert, der bei diesen Forschern auch je ermittelt wurde“, betonte Schroeder im Deutschlandfunk. 

 www.boell.de

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