© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/16 / 24. Juni 2016

Bürger sollen wachsam sein
Islamistischer Terrorismus: Innenminister warnen vor der Gefahr durch Einzeltäter / Schwachstellen bei Kooperation der Behörden
Christian Schreiber

Nach jahrelangem Verharmlosen und Kleinreden schlagen Innenpolitiker der Länder und des Bundes nun Alarm. Der Vorsitzende der Innenministerkonferenz, der Saarländer Klaus Bouillon, malte in der vergangenen Woche ein Schreckensszenario an die Wand: Es habe noch nie ein derart hohes Gefährdungspotential durch Terroristen, Islamisten und Salafisten in Deutschland gegeben. Man müsse davon ausgehen, daß ein Attentat wie in Paris, bei dem ein IS-Terrorist ein Polizistenpaar getötet hatte, auch hier passieren könne. Der CDU-Mann und seine Kollegen fordern deswegen eine Stärkung der Geheimdienste.

Bewegungsspielraum von Terroristen einschränken

Mehr und mehr wird deutlich, in welchem Ausmaße sich radikale Salafisten in Deutschland breitgemacht haben. Innenminister Thomas de Maizière sieht mittlerweile eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe in der Terrorismusbekämpfung und rät den Bürgern, jetzt noch wachsamer zu sein. Wenn sich Familienangehörige, Nachbarn und Freunde radikalisieren würden, müsse es „erhöhte Achtsamkeit“ geben, forderte er gegenüber der Nordwestzeitung. 

Dies müsse Teil der Sicherheitsarchitektur sein, es handele sich um für die Behörden unverzichtbare Hinweise. Schließlich beginne die Radikalisierung im persönlichen Umfeld der Menschen. „Wir müssen uns inzwischen sowohl auf Einzelattentate als auch auf gemischte Anschläge wie in Paris und international koordinierte Terroranschläge vorbereiten, nicht mehr nur auf eines dieser Szenarien“, sagte der CDU-Politiker. „Die Lage ist ernst. Die Gefahr eines Terroranschlages besteht auch hierzulande.“

In Deutschland hatte zuletzt ein Sprengstoffattentat auf einen Sikh-Tempel in Essen am 16. April dieses Jahres für Unruhe gesorgt. In Nord-rhein-Westfalen kamen mehrere Expertenrunden zusammen, um die Konsequenzen aus diesem Vorfall zu ziehen.  „Radikalisierte junge Menschen, die sich miteinander vernetzen, sind landesweit ein neues Phänomen und stellen für alle Beteiligten eine große Herausforderung dar“, sagte der Gelsenkirchener Oberbürgermeister Frank Baranowski dem Westdeutschen Rundfunk. Der Anschlag habe viele Schwachstellen offenbart. Denn an unterschiedlichsten Stellen gab es Erkenntnisse und Hinweise zu den radikalen Tendenzen der Jugendlichen. Ausgetauscht wurden diese nicht, so daß der Anschlag am Ende auch nicht verhindert werden konnte. Zwei der Tatverdächtigen seien in einem Präventionsprojekt bekannt gewesen. Auch Lehrer und Angehörige hatten Hinweise gegeben. Ausgetauscht habe man die einzelnen Informationen kaum. 

„Wir müssen uns verstärkt darum bemühen, daß ein solcher Austausch nicht nur besser gelingt, sondern selbstverständlich wird“, forderte Saar-Innenminister Bouillon. Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) kündigte gegenüber dem Bayernkurier an, seine Landesregierung werde einen neuen Anlauf für die Ausdehnung der Schleierfahndung auf ganz Deutschland starten. Die Schleierfahndung sei wichtig bei der Bekämpfung von Einbruchdiebstählen und Drogenkriminalität, sagte Herrmann. „Wir wollen auch den Bewegungsspielraum von Terroristen einschränken.“ Vor einem Jahr hätten die Innenminister von Nord-rhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz das ausdrücklich abgelehnt, kritisierte Herrmann. „Wir werden das jetzt wieder einbringen“, sagte der CSU-Politiker. „Wenn das Risiko von Einbruchdiebstählen beispielsweise in NRW sechsmal so hoch ist wie in Bayern, kann man mir nur schwer erklären, warum man sagt: Bei uns braucht’s keine Schleierfahndung.“ Herrmann sowie Bundesinnenminister de Maizière setzen im Kampf gegen den internationalen Salafismus auch auf einen Austausch der Geheimdienste. „Wir dürfen nicht so blauäugig sein und denken, daß es immer nur andere betrifft“, sagte de Maizière, und Herrmann fügte hinzu: „Erkenntnisse, die Behörden aus anderen Länder haben, müssen selbstverständlich auf die Arbeit in Deutschland Auswirkungen haben.“ 

Dabei bezogen sich die beiden Minister auf Erkenntnisse des belgischen Geheimdienstes, daß sich mehrere hunderte Anhänger der Terrormiliz Islamischer Staat auf dem Weg nach Europa befänden. Der IS hatte seine Anhänger zu Anschlägen in Europa und den USA während des Fastenmonats Ramadan aufgerufen. Der Ramadan begann Anfang Juni, nahezu parallel zur Fußball-Europameisterschaft in Frankreich. Eine konkrete Terrorgefahr für Deutschland sei derzeit nicht gegeben. Dennoch appellierte de Maizière zur Wachsamkeit: „Wir können nicht ausschließen, daß sich Leute im Endeffekt hier ermuntert fühlen. Wir dürfen die Gefahr von Einzeltätern nicht unterschätzen.“ 

Den bundesdeutschen Behörden sind  bis Herbst vorigen Jahres 680 Ausreisen von Islamisten aus Deutschland zum IS bekannt gewesen. Etwa 400 von ihnen seien mittlerweile zurückgekehrt. Seit Sommer 2014 seien die Ausreisezahlen zwar zurückgegangen, es habe sich aber eine neue Dynamik bei der Radikalisierung von Frauen und jungen Menschen ergeben, teilte das Bundesinnenministerium mit, das von einem europaweiten Phänomen spricht. „Der potentielle Einzeltäter vor Ort ist genau solch eine Bedrohung wie die international operierende Zelle“, sagte de Maizière.