© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/16 / 24. Juni 2016

Steinbruch für Meinungsmacher
Das gleichzeitig mächtige und schwache Deutschland: Der britische Politikwissenschaftler Hans Kundnani über Europas ökonomischen Hegemon
Peter Seidel

Wird 2016 das Jahr der „Streitschriften“? Die Neuerscheinungen des Jahres deuten dies zumindest für zwei Bereiche an: die Medienkritik und die Europapolitik. Allein im Beck-Verlag sind dazu jetzt mehrere Bücher erschienen, die sich zum Teil selbst so bezeichnen. Offensichtlich haben die Entwicklungen der Vorjahre dazu angeregt: die Eurokrise, die Krimkrise, die Asylkrise.

Beispielhaft dafür steht Hans Kundnani, Mitarbeiter des German Marshall Fund, der über das „Paradox der deutschen Stärke“ schreibt. Die sechs Kapitel seines Buches, 2015 zuerst in Großbritannien erschienen, umfassen hauptsächlich einen historischen Rückblick, der den Großteil des Buches einnimmt, und die eigentliche Streitschrift am Schluß mit etwa 55 Seiten.

Im Kern steht dabei seine Kritik an Deutschlands heutiger wirtschaftlicher Stärke, die zu einer hegemonialen Stellung Berlins geführt und Hauptgrund nicht nur für Euro- und Schuldenkrise, sondern auch für die unzureichende bzw. spaltende Handhabung von Krim- und Asylkrise sei. Allerdings werde es so denn doch nicht zu einem „deutschen Europa“ kommen, sondern nur zu mehr Chaos, gerade weil die Deutschen sich weigerten, eine Schulden- und Haftungsunion mit Eurobonds für Europa einzugehen. 

Kundnani fordert eine europäische Transferunion

Kundnani führt hier beispielhaft die USA an, die unter Präsident Thomas Jefferson (1801–1809) die Schulden vergemeinschaftet hätten. Allerdings vergißt er zu erwähnen, daß damals eben nicht einige Bundesstaaten die Schulden anderer Bundesstaaten übernommen hatten, sondern der neue Gesamtstaat, den es in Europa aber eben nicht gibt. Hier würde deshalb jede weitere Ausweitung und Institutionalisierung einer Transferunion zu Lasten der wenigen Nettozahler gehen, wobei Deutschland am stärksten betroffen wäre. Wieso dies aus deutscher Sicht sinnvoll sein soll, vermag er nicht deutlich zu machen. Im übrigen wäre es richtiger, von Deutschland eher von einer „dominanten Ökonomie“ als von einem „Hegemon“ zu sprechen, wie dies in Frankreich seit langem der Fall ist.

Meistzitierter Autor ist der bekannte Historiker Heinrich August Winkler, aber auch Habermas, George Soros und Joschka Fischer werden intensiv berücksichtigt. Autoren wie Herfried Münkler, Michael Hüther oder Martin Winter, die im letzten Jahr die Europadiskussion in Deutschland maßgeblich geprägt haben, werden nicht oder nur am Rande erwähnt. Dies gilt auch wirtschaftspolitisch, da die Arbeit nahezu ausschließlich auf den angelsächsischen Neo-Keynesianern Paul Krugman und Joseph Stiglitz fußt und intensive bundesdeutsche Diskurse mit Autoren wie Hans-Werner Sinn oder Norbert Bolz so gut wie gar nicht berücksichtigt.

Das Buch wäre in Deutschland wohl gar nicht erschienen, hätte nicht Heinrich August Winkler „den Anstoß (...) für die deutsche Ausgabe gegeben“. Winkler rühmt das Büchlein als „brilliant“ mit einer „außergewöhnlich scharfsinnigen Analyse“. Doch das ist es nun gerade nicht! Brendan Simms, der auch in Deutschland bekannte irische Geschichtsprofessor, bezeichnet es als lesenswert für „Meinungsmacher und Politiker“, und das kommt dem Ganzen doch schon erheblich näher.

Für diesen Personenkreis bietet das Buch einen Steinbruch, um die Berliner Europapolitik angreifen zu können. Empfehlenswerter ist da Simms neues Plädoyer für „Vereinigte Staaten von Europa“ mit dem Titel „Europa am Abgrund“. Dieses bietet eher eine treffende Analyse der gegenwärtigen Lage in Europa aus linker Sicht, auch wenn seine konkreten Vorschläge doch eher unrealistisch erscheinen. Das US-Modell, aus einer ehemaligen Kolonie einen Superstaat zu machen, trifft derzeit schließlich nicht nur in Großbritannien auf immer entschiedeneren Widerspruch.

Hans Kundnani: German Power. Das Paradox der deutschen Stärke. Verlag C.H. Beck, München 2016, broschiert, 207 Seiten, 18,95 Euro