© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/16 / 24. Juni 2016

Der Flaneur
Charakterstudie am Hangrutsch
Bernd Rademacher

Jedesmal wenn ich in diesem einsamen Landstrich Ferien mache, ärgere ich mich über die hoffnungslose Gleichgültigkeit des Menschenschlages. Sie vernachlässigen ihre Dörfer, ihre Höfe und Häuser und sich selbst. Eine deutsche Mañana-Mentalität. Mich als Preuße regt so etwas auf.

In den letzten Tagen muß es hier fürchterlich geschüttet haben. Auf den Feldern am Berg hat der Regen knietiefe Sturzbäche ausgewaschen. Canyons im Modelleisenbahn-Maßstab. In der Senke staut sich ein See von Fußballfeldgröße. Das Rinnsal am Waldsaum ist zu gurgelnden, braunen Fluten angeschwollen.

„Lebensgefahr!“        Verbotenes reizt mich, ich schlüpfe unter dem Flatterband durch.

Die Bimmelbahn mußte wegen eines Hangrutsches den Verkehr einstellen. Das will ich mir anschauen. Doch oberhalb des alten Tunnels ist der Weg mit rotweißem Warnband gesperrt: „Weitergehen verboten! Lebensgefahr!“ Verbotenes reizt mich, ich schlüpfe unter dem Flatterband durch.

Etliche Bäume haben den Halt verloren und sind über den Bahndamm gestürzt. Die Aufräumarbeiten haben schon begonnen, manche Kronen sind frisch abgesägt. Vom Berg strömt immer noch Wasser über den Weg und bringt einiges Geröll mit. Allmählich wird es mir zu gefährlich – Rückmarsch!

Als ich wieder am Tunnel bin, höre ich einen Traktor, dann brummt er schon um die Bergnase. Ein kommunaler Forstarbeiter kommt mir darauf entgegen. Jetzt gibt’s sicher Ärger. Vorauseilend lüge ich: „Tut mir leid, aber äh, mein Hund ist mir unter dem Band durchgelaufen ...“ Ich erwarte mindestens einen pädagogischen Vortrag über den Sinn der Aufschrift „Lebensgefahr“.

Der Mann blickt mich nur zutiefst desinteressiert an und zuckt mit den Achseln. Im Vorbeiknattern wirft er mir noch ein teilnahmsloses „Is’ worscht“ zu. Hm, in diesem Fall hat das Phlegma eine gute Seite. Das muß am Wein liegen. Ich beschließe, meine preußischen Maßstäbe mit Pfälzer Riesling zu lockern.