© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/16 / 01. Juli 2016

Britischer Pragmatismus
Referendum: Langfristig hat Großbritannien gute Chancen, vom Brexit zu profitieren
Bruno Bandulet

Er gehört zu denen, die immer noch nichts begriffen haben. Als am 24. Juni feststand, daß sich die Briten aus der EU verabschieden würden, sprach Volker Kauder, Merkels Chefadjutant und Dampfplauderer vom Dienst, von einer „unfaßbaren Entscheidung“. Er machte David Cameron als den Hauptschuldigen aus und forderte, man dürfe die Zukunft Europas nicht durch Großbritannien „in Frage stellen lassen“. Nur stand am Tag des Brexit nicht die Zukunft Europas zur Debatte, sondern die der EU, und die Schuld am Austritt lag nicht etwa beim britischen Premier, sondern bei denen, die in Brüssel, Paris und Berlin das europäische Projekt längst an die Wand gefahren hatten. 

Den Irrweg, auf den die Europäische Union eingeschwenkt ist, haben die Engländer nicht zu verantworten. Sie traten 1973 aus Überzeugung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft bei, zu der sich das Kerneuropa der Sechs 1958 zusammengeschlossen hatte. Sie blieben gerne bei der späteren EG, auch als deren Kompetenzen durch die Einheitliche Europäische Akte 1987 erweitert wurden. Sie waren Teil der Erfolgsgeschichte, zu der sich der europäische Binnenmarkt entwickelte. Sie profitierten vom Freihandel ebenso wie der Kontinent. Anfang der neunziger Jahre hatten die Europäer alles erreicht, was erreichbar war, ohne die Grenze zur Selbstbeschädigung zu überschreiten – bis Kohl und Mitterrand 1991 auf die Idee kamen, in Maastricht einen neuen, ganz anderen Europa-Vertrag auszuhandeln.

 Maastricht und die damals beschlossene Währungsunion wurden zur Quelle nicht nur des britischen Mißvergnügens. Von Maastricht führt eine lange und doch direkte Linie zur heutigen Existenzkrise der EU und zum Entschluß des britischen Souveräns, das unschöne Schauspiel lieber von außen zu betrachten. Mit den Verträgen von Amsterdam, Nizza und Lissabon lief die EU in die typische Falle einer selbstbezogenen Großbürokratie, die sich übernahm und demokratischen Widerstand provozierte, indem sie nichts als ihre eigene Machterweiterung betrieb.

Niemand wird bestreiten können, daß die Briten eine kluge Entscheidung trafen, als sie dem Euro fernblieben. Wenn deutsche Politiker ehrlich wären, müßten sie zugeben, daß die deutsche Teilnahme an dem Währungsexperiment ein gravierender Fehler war und daß das Projekt einer „immer engeren Union“ gescheitert ist. Die Vorstellung, Integrationsbeschleunigung sei die Antwort auf den Brexit, wird sich als illusionär erweisen. Die EU wird sich zurücknehmen und neu definieren müssen, um zu überleben. Englands Austritt ist keine Katastrophe, sondern ein Signal.

José Ortega y Gasset verdanken wir die Erkenntnis, „daß Herrschaft letzten Endes nichts anderes ist als geistige Macht“ und daß man nicht gegen die öffentliche Meinung herrschen kann. Auch auf dem Kontinent wächst der Widerstand gegen die schleichende Machtusurpation der Eurokratie und gegen das Bündnis aus Großkapital und Internationalismus, das diese EU im Griff hat. Geschmiert wird die Maschinerie durch Subventionen aus dem EU-Haushalt, die an die korruptionsanfällige Peripherie fließen und die den deutschen Steuerzahler als Hauptfinanzier 2014 15,5 Milliarden Euro gekostet haben. Tendenz steigend, auch weil Deutschland wohl oder übel den größeren Teil der künftig wegfallenden britischen Nettozahlungen wird übernehmen müssen. Das waren 2013 und 2014 zusammengenommen über 13,5 Milliarden Euro. 

Selbstverständlich wird es in den bevorstehenden Austrittsverhandlungen primär um Geld und Wirtschaftsinteressen gehen. Berufseuropäer wie der unsägliche Lobbyist und CDU-Europaabgeordnete Elmar Brok werden ihren Impuls, die abtrünnigen Engländer zu bestrafen, unterdrücken müssen. Die Behauptung, die britische Wirtschaft werde für die Trennung einen hohen Preis zahlen, ist unsinnig. 2014 gingen 45 Prozent der britischen Exporte in die EU, aber 53 Prozent der Importe kamen aus der EU. Damit würden die kontinentalen Unternehmen und vor allem die deutsche Industrie unter einer willkürlichen Schädigung der Handelsbeziehungen mehr leiden als die britische Wirtschaft. Kurzfristig bestehen wegen der Unsicherheit Risiken für die britische Wirtschaft, langfristig hat Britannien gute Chancen, vom Brexit zu profitieren.

Für Deutschland selbst ist die neue Situation alles andere als angenehm. Einerseits spricht einiges für einen Dexit, einen deutschen Austritt, wie ihn Hans-Olaf Henkel vorgeschlagen hat. Nur ist er nicht machbar, das trauen sich die deutschen Eliten nicht zu. Andererseits werden die Deutschen ohne ihren britischen Verbündeten, den Merkel übrigens sträflich vernachlässigt hat, alleingelassen mit den Romanen und deren Führungsmacht Frankreich und damit den Protagonisten einer Transferunion und einer Schuldengemeinschaft, die auf den Finanzier Deutschland setzt und ohne ihn kollabieren würde. Die EU als solche zu reformieren wäre vielleicht zu meistern, bestünde nicht das ungelöste und kaum lösbare Euro-Problem, das als schwere Hypothek auf einer verkleinerten EU lastet.

So potenziert die monetäre Krise die institutionelle. Alles in allem ist der Brexit eine schlechte Nachricht für Deutschland, auch wenn er die längst schwelende Krise nur zuspitzt und zeitlich beschleunigt. Um zukunftsfähig zu werden, müßte die EU Bürokratie abbauen, den Zentralismus zurückdrehen, den willkürlich urteilenden Europäischen Gerichtshof entmachten und den Euroraum verkleinern. Gefragt ist britischer Pragmatismus, mehr denn je auch auf dem Kontinent.






Dr. Bruno Bandulet ist Publizist und Herausgeber des Deutschland-Briefs (erscheint in dem Magazin Eigentümlich frei). Als Journalist war er unter anderem bei der Welt tätig.